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Interview: Familien- und Erziehungsberaterin Sylvia K. Will

„Die Familien fühlen sich im Stich gelassen“

Corona bricht an allen Ecken und Kanten Übertünchtes auf. Ganz besonders Familien mit Kindern haben es aufgrund des staatlich beschlossenen Regelwerks mehr als schwer. Hier Hilfe zu finden, braucht es wirkliche Expertise. Für die Ahoi konnte Redakteur Volly Tanner Sylvia K. Will, Leiterin der Familienberatungsstelle des „Wegweiser e.V.“ für ein kleines Gespräch gewinnen, die hier am Rande Leipzigs im Vereinshauptsitz in Böhlen in der Familien- und Erziehungsberatung tätig ist.

Sylvia K. Will leitet die Familienberatungsstelle des Wegweiser e.V. © Laura Hauschild

Im Stadtgebiet Leipzig gibt es insgesamt elf Familienberatungsstellen, an die Familien sich wenden können. Im Landkreis Leipzig gibt es insgesamt fünf Beratungsstellen. Manchmal gibt es unterschiedliche Schwerpunkte, doch im Kern bieten alle eine ähnliche Hilfe an. Beratungen in den Familienberatungsstellen sind immer kostenfrei. Mehr Informationen in der blauen Box am Ende diesr Seite.

Liebe Frau Will, Familienberatung in Böhlen: Wie ist die Situation derzeit durch Corona in den Familien, ihrer Erfahrung nach?

Unsere Familienberatungsstelle berät an insgesamt drei Standorten – in Böhlen (Vereinshauptsitz) und den Außenstellen Markkleeberg und Leipzig-Engelsdorf, wobei Engelsdorf unser größter Standort ist. Wir sind damit die einzige Beratungsstelle, die gleichzeitig in der Stadt Leipzig und im Landkreis Leipzig tätig ist (und dementsprechend auch von der Stadt und vom Landkreis finanziert wird). Unser Team umfasst insgesamt 10 Berater*Innen und zwei Verwaltungsfachkräfte.

Seit uns Corona wie alle anderen auch relativ unvorbereitet getroffen hat, haben wir viele Dinge im Beratungsprozess angepasst, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Mittlerweile bieten wir unkompliziert Telefon- und Videoberatungen an für Familien, die entweder z.B. wegen fehlender Kinderbetreuung nicht kommen können oder wegen der Infektionsrisiken nicht kommen wollen. Wir haben Teile unserer Gruppenangebote und unsere monatlichen Vortragsreihen auf Online-Angebote umgestellt und bereits zum ersten Lockdown das „Krisentelefon" installiert, in dem Ratsuchende schnell ein erstes klärendes Gespräch führen können.

Unserer Erfahrung nach fühlen sich die Familien seit Monaten im Stich gelassen. Die Probleme, die sich durch schnelle Kita- und Schulschließungen und den Wegfall von ergänzenden Betreuungspersonen wie bspw. den Großeltern ergeben, müssen Familien meistens ganz allein abfedern und lösen. Viele Hilfsangebote, die Familien in Not sonst in Anspruch nehmen können, fallen entweder teilweise oder dauerhaft weg, Institutionen sind nicht erreichbar oder Termine werden abgesagt und verschoben. Die Familien, die sich im ersten Lockdown bei uns am Krisentelefon gemeldet haben, waren teilweise einfach nur verzweifelt, weil sie keine Ansprechpartner*Innen für ihre Fragen mehr erreichen konnten. Häufig haben wir dort auch einfach beim Sortieren der Anliegen geholfen und versucht, Netzwerkpartner*Innen zu erreichen, Kontakte herzustellen und erste Notfall- und Durchhaltestrategien auszuarbeiten.

Insbesondere umgangsberechtigte Elternteile hatten und haben viele Fragen zu den gesetzlichen Bestimmungen. Leider wurden die Infektionsrisiken der letzten Monate manchmal von Elternteilen genutzt, um dem anderen Elternteil den Umgang mit dem gemeinsamen Kind vorzuenthalten.

Wie geht es den Familien im Lockdown? Wo sind die Problemstellungen?

Die Familien sind durch die permanente Dauerbelastung müde und ausgelaugt. Es ist unglaublich, wie von Politikern und Politikerinnen behauptet wird, man könne zu Hause arbeiten und gleichzeitig Kinder betreuen bzw. für deren schulische Bildung sorgen – und das ohne Altersbeschränkung. Sylvia K. Will, Leiterin der Familienberatungsstelle des Wegweiser e.V.

Sicherlich sind gewisse Arbeiten möglich, wenn ein 13-Jähriger selbstständig im Nachbarzimmer Aufgaben bearbeitet – aber wie soll das eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindergartenkindern schaffen? Notbetreuung gibt es nur für Kinder bis Ende Grundschulalter – also wird erwartet, dass ein 11-Jähriger den kompletten Tag alleine verbringt, Schulaufgaben macht, sich Mittagessen kocht und nicht psychisch vereinsamt? Es gibt keine Lösungen für die Probleme, welche die Beschränkungen des Infektionsschutzes verursachen.

Zu Beginn des ersten Lockdowns ist man davon ausgegangen, dass die Fallzahlen bzgl. häuslicher Gewalt und die Anmeldungen in den Frauenschutzhäusern durch die Decke gehen werden aufgrund der beengten Situation zu Hause. Unser Verein betreut im Landkreis ein Frauenschutzhaus und eine Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Der erwartete Ansturm blieb aus und alle wunderten sich. Bis wir feststellten, dass natürlich auch Fluchtmöglichkeiten und das Wahrnehmen von Hilfsangeboten limitiert sind, wenn Täter und Opfer den ganzen Tag gemeinsam verbringen müssen – und das betrifft sowohl Kinder als auch Erwachsene in Partnerschaften.

Wirksamer Kinderschutz ist angesichts der aktuellen Isolation daher kaum möglich. Niemandem fällt auf, wenn Kinder vernachlässigt, misshandelt oder erniedrigt werden. Sie finden außerhalb der Familien keine Ansprechpartner*Innen, können nicht von den Dingen erzählen, die sie belasten. Wir nehmen diese Entwicklung als gefährdend und kritisch war.

Den Eltern aber auch den Kindern fehlen Sozialkontakte, ihre gewohnten Abläufe, vielleicht ihr Sport oder ihr Hobby, der familiäre Rückhalt, den es möglicherweise gibt u. s. w.. Eltern erzählen uns, dass die Konflikte innerhalb der Familien sich verstärken, dass die fehlenden Tagesstrukturen und die permanente Überforderung von allen sich auf die Stimmung auswirken. Viele Eltern fühlen sich auch massiv unter Druck, den Anforderungen der Schulen und Arbeitgeber*Innen gerecht zu werden und geben diesen Druck dann bewusst oder unbewusst an die Kinder weiter. Ausgleichende Erholungsphasen fehlen oft. Es wird in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden gearbeitet, wenn die Kinder schlafen oder Eltern teilen sich so ein, dass immer einer abwechselnd die Kinder betreut. Dann finden kaum mehr Zeiten für das Elternpaar statt, so dass auch deren Beziehung leidet.

Manchmal ist es aber auch so, dass in den Familien Ratlosigkeit und Langeweile herrscht, wie die Tage gestaltet werden können. Ein Lockdown lässt sich in einem komfortablen 150qm Haus auf dem Land mit eigenem Garten besser überstehen als zu fünft in einer engen 70qm Wohnung ohne Balkon, wenn alle Angehörigen den ganzen Tag zu Hause sind. Die aktuelle Situation verschärft die Ungerechtigkeiten, die sowieso existieren. Aber die meisten Familien, ob privilegiert oder nicht, leiden unter der aktuellen Situation.

Wie können die Probleme wenigstens in Ansätzen bearbeitet und ausgeräumt werden?

Für die meisten Eltern ist es schon entlastend, darüber zu sprechen, dass sie überfordert, wütend, verärgert oder depressiv verstimmt sind. Gerade in der sozialen Isolation kommt es uns häufig so vor, als seien wir die Einzigen, die nicht zurechtkommen. Manchmal gibt es auch dementsprechende Kommentare von Familie oder Bekannten: „Andere kriegen das doch auch hin. Das muss eben jetzt sein. Jetzt stell dich nicht so an." Ansonsten gibt es erstmal kein Zauberrezept. Es muss geschaut werden, was die aktuellen Probleme hervorruft oder verstärkt und dann nach individuellen Lösungsansätzen gesucht werden. Aber wir sprechen mit Eltern oft dahingehend, sowohl mit sich selbst als auch mit ihren Kindern nachsichtig zu sein in dieser schweren Zeit, in der wir alle durch die ungewöhnlichen Umstände extrem belastet sind.

Gibt es vermehrt Anfragen?

Wir sind in der Regel (wie alle anderen Beratungsstellen) an allen Standorten komplett ausgelastet. Zu Beginn der Pandemie sind unsere Anfragen erst einmal extrem zurück gegangen, auch, weil viele Klient*Innen keinen Beratungsbeginn über Telefon oder Video wünschten. Damals sind wir alle noch naiverweise davon ausgegangen, dass dieser Zustand ein bald absehbares Ende haben würde. Das hat sich mittlerweile geändert. Wir haben gelernt, auch in unserem Berufskontext mit der Pandemie und deren Auswirkungen zu leben und die Klient*Innen haben gemerkt, dass das Aufschieben ihrer Schwierigkeiten nicht weiter möglich ist. Daher werden wir aktuell wieder verstärkt angefragt.

Das Problem der Nichterreichbarkeit von Netzwerkpartner*Innen beschreiben weiterhin viele Familien. Problematisch ist allerdings, dass Familien mit insbesondere kleinen Kindern zu Hause immer noch Schwierigkeiten haben, Termine wahrzunehmen, selbst wenn sie online stattfinden. Wo sollen die kleinen Kinder betreut werden, wenn die Eltern im Nebenraum ein anstrengendes und emotional möglicherweise aufwühlendes Gespräch führen? Wir sind im kritischen Einzelfall schon dazu übergegangen besonders ausgefallene Beratungszeiten anzubieten, bspw. sehr früh am Morgen oder sehr spät am Abend – aber auch unsere Belastbarkeit und Flexibilität hat natürlich Grenzen. Auch die psychische Gesundheit meiner Mitarbeiter*Innen muss hier beachtet werden. Wir können viel möglich machen, aber eben nicht alles.

Und konkret in Ihrer Beratungsstelle des Wegweiser e.V., Frau Will – was können Sie da gerade machen?

Bezüglich unserer Beratungsstelle würde ich gerne anmerken, dass wir aktuell wieder das Krisentelefon anbieten (Termine für Stadt und Land stehen auf unserer Website), in dem sich Eltern schnell und unbürokratisch Hilfe holen können (ohne Anmeldung zur Beratung).

Außerdem bieten wir monatlich Online-Eltern-Seminare zu unterschiedlichen Themen (Trennung, Pubertät, Patchwork, Partnerschaft) an. Diese sind kostenfrei und können sowohl von Eltern als auch Fachpersonen besucht werden (Anmeldung und Info siehe Website).

Unsere Instagram Seite wird außerdem mit reichlich Informationen zu allen Themen der Elternschaft gefüttert und teilt interessante Informationen (@familienberatung_wegweiser).

Schlussendlich möchten wir noch einige Informationen zu Ihnen selber abfragen. Wie wurden Sie Beraterin? Das macht man ja nicht einfach nur mal so, weil man hin und wieder Freundinnen geholfen hat.

Ich habe in Leipzig Diplom-Psychologie studiert, später die Ausbildung zur Systemischen Familientherapeutin gemacht und bin nach verschiedenen Stationen 2016 zum Wegweiser e.V. gekommen. Seit 2019 leite ich die Familienberatungsstelle. Ich engagiere mich seit 15 Jahren für einen gleichwürdigen Umgang mit Kindern und für deren Rechte und habe in der spannenden und fordernden Arbeit mit Familien, Kindern und Jugendlichen und zusammen mit meinem unglaublich engagierten und kompetenten Team eine Aufgabe gefunden, die mich vollkommen erfüllt.

 

Sylvia K. Wills 5 Tipps für einen friedlichen Familienalltag in Corona-Zeiten gibt es HIER

Die Familienberatungsstelle des Wegweiser e.V.

www.familienberatung-wegweiser.de
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Krisentelefon: 034206 - 75825

 

Familienberatung in Leipzig und Umgebung

Übersicht über die elf Familienberatungsstellen in Leipzig als PDF HIER
Dort gibt es auch den Leipziger Präventionsbrief zum Herunterladen – ein Dokument, in dem alle aktuellen präventiven Angebote der Beratungsstellen zusammengefasst werden.

Im Landkreis Leipzig gibt es insgesamt fünf Beratungsstellen. 
Eine Übersicht gibt es HIER

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