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Interview: Liedermacherin Nadine Maria Schmidt

Pflege braucht mehr als Klatschen von Balkonen

Pflege ist, nicht erst seit Corona, ein von der Politik vernachlässigtes Thema. Dass da aber so viele Menschen tagtäglich und auch nachts ackern und helfen, bleibt viel zu oft unerwähnt. Ahoi macht sich stark.

Die Liedermacherin Nadine Maria Schmidt setzt sich für soziale Themen ein © Susann Prautsch

Nadine Maria Schmidt, die Leipziger Liedermacherin mit der unverwechselbaren lebenszerkratzten Stimme macht mit ihrem Projekt „Pflege braucht mehr als Klatschen von den Balkonen“ darauf aufmerksam und beantwortet die Fragen von Ahoi-Redakteur Volly Tanner aus eigener Erfahrung. Das derzeitige System ist krank. Weil es die falschen Werte in den Mittelpunkt seines Handelns stellt.

 

Guten Tag, liebe Nadine Maria Schmidt. Gerade sah ich ein Video von dir im Internet mit dem Lied „Pflege braucht mehr als das Klatschen von Balkonen“, indem du zum Mitmachen aufrufst – und zwar Pflegekräfte. Kannst du uns da bitte etwas zur Aktion erzählen?

Hallo lieber Volly, na klar. Sehr gern! Als ich mein erstes Projekt in dieser Art zur „Risikogruppe - Schützt Du Dich, dann schützt Du mich!“ im Frühjahr mit vielen Menschen aus Deutschland und anderen Ländern veröffentlichte, schrieb mich daraufhin jemand an und fragte, ob ich so eine Aktion nicht auch für Pflegekräfte ins Leben rufen könne. Da mich Menschen in der Pflege schon lange beschäftigten, war das für mich wie ein Startschuss und ich legte los.

Ich habe nach langer Zeit der Recherche dann den Pflegesong geschrieben. Dazu soll nun ein Musikvideo entstehen, in dem die Bedürfnisse und Forderungen von Pflegekräften sowie pflegenden Angehörigen in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Teilnehmer*innen zeigen sich und ihre Wünsche, Botschaften und/oder Forderungen für die Pflege in kurzen selbstgedrehten Handyvideos auf Zetteln, Schildern oder Plakaten. Derzeit befinde ich mich in der Endphase der Teilnehmer*innensuche.

 

Ich hörte, dass sich kaum Männer melden – ist da was dran und woran liegt das, deiner Meinung nach?

Ja da ist etwas dran. 70 – 80 % der Pflege wird von Frauen übernommen, habe ich innerhalb der Aktion gelernt. Sei es bei den Fachkräften in den Einrichtungen oder in der häuslichen Pflege. Und das ist dann sicherlich der Grund, dass sich bei mir auch mehr Frauen als Männer gemeldet haben.

 

In den sozialen Medien hast du am Todestag von Liliane Juchli, am 30.11.2020, einen Post mit einem Spruch von ihr abgesetzt: „Ausgebrannte Pflegekräfte bringen keine Wärme mehr; wem nützt ein Leuchtturm, wenn die Lampe nicht brennt?“. Frau Juchli starb am Coronavirus im Alter von 87 Jahren. Wer war denn diese Frau Juchli eigentlich?

Ich bin von einem Pfleger im Chat auf sie aufmerksam gemacht worden, und zwar gerade und leider an ihrem Todestag. Ich recherchierte ein bisschen zu ihr und alles was ich zu ihr fand, berührte mich sehr. Sie war eine der ganz großen Pionierinnen der professionellen Pflege. Sie war eine Schweizer Krankenschwester, Ordensschwester und Pflegewissenschaftlerin. Sie brachte einen ganz wesentlichen Aspekt in die Pflege ein, und zwar, den Menschen als Ganzes zu sehen, also den Körper, die Seele und den Geist. Und das sowohl mit Sicht auf den Pflegenden, aber auch auf die Selbstfürsorge derer, die pflegen. Hier wird auch der Bezug zum erwähnten Zitat deutlich, denn so sagte sie in anderen Worten: Eine "heilende Pflege steht und fällt mit dem Heilsein und Wohlsein der Pflegenden“.

Und diese Tatsache ist, auch schon vor Corona, leider aktueller denn je. Oder um es mit den Machern einer sehr wichtigen Aktion zur Situation der Pflegekräfte zu sagen: Wir haben „Pflegestufe Rot!“

 

In deinem Post schreibst du: „Sie hinterlässt einen Schatz, an dessen Anfang ich gerade stehe.“ – was bedeutet das denn konkret?

Das bedeutet konkret, dass Frau Juchli einen großen Schatz an Schriften und Werken hinterlässt. „Schatz“, weil ich ahne, dass es sich nicht nur für Pflegekräfte lohnen könnte, diesen zu entdecken, sondern auch für Menschen wie dich und mich. 

Denn den Menschen als Ganzes zu sehen und ihn mit Würde und Respekt zu behandeln, sollte nicht nur Aufgabe der Pflege sein, sondern unser täglich Brot. Sei es bei unseren engsten Vertrauten oder völlig fremden Menschen auf der Straße, im Supermarkt, beim Bäcker oder Facebook und Co. Und auch in Sachen Selbstfürsorge, bin ich mir sicher, können viele von uns bei Liliane Juchli einen Schatz finden. 

Ich kann mir nicht mal im Ansatz anmaßen, ihr Werk und Schaffen zu kennen. Sofern ich aber das Wenige, was ich bis jetzt lesen konnte, richtig zu deuten weiß, hat sie sich ihr ganzes Leben für die Würde des Menschen eingesetzt. Diese Würde wird zwar gesetzlich als unantastbar geschützt, aber in der Realität leider zu oft verletzt, gequält und niedergebissen. Eine große Aufgabe für unsere Menschheit. Immer noch und immer wieder. Für jeden einzelnen von uns. An jedem einzelnen Tag. Vielleicht kann man bei Liliane Juchli wichtige Ansätze finden, wie wir alle, in unserem Alltag, dieser großen Aufgabe nachkommen können.

 

Du engagierst dich für die Pflegekräfte auch aus persönlicher Betroffenheit wie ich weiß. Kannst du uns bitte etwas dazu erzählen?

Ich bin derzeit selber pflegende Angehörige und habe aber auch einige Jahre Pflege in der eigenen Familie als Beobachterin miterlebt.

Ich setze mich sowohl für Pflegekräfte als auch für pflegende Angehörige ein, denn ca. 70 % der Pflege findet in Deutschland zu Hause statt. Ich wollte in dieser Aktion gern Vertreter*innen der ganzen Pflege abbilden. Die Politik kommuniziert selten bis nie diese Akteur*innen gemeinsam. Mir scheint es manchmal fast, als trieben sie eher einen Keil zwischen professionelle Pflegekräfte und pflegende Angehörige. Ich bin aber der Meinung, auch hier könnten wir gemeinsam viel mehr erreichen als jeder für sich. Insbesondere da sowohl die pflegenden Angehörigen auf die professionellen Pflegekräfte angewiesen sind und umgedreht. 

Deshalb freue ich mich ganz besonders über die vielen lieben Menschen, die sich in meiner kleinen Herzensaktion gemeinsam ins „PflegeBoot“ setzen, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen.

 

Ich habe das Gefühl, dass Pflege auch zu einem Spielball der politisch Aktiven mutiert, dass es extrem selten wirklich um die Pflege geht, sondern viel mehr um Positionierung und ein Senden ins eigene Milieu, um zu zeigen, dass man moralisch besser ist als die Anderen. Der alte Kampf um die Deutungshoheit und die geschlossenen Wählerreihen unter der Flagge mit der Aufschrift „Die sind böse, wir sind gut!“ Wie kommen wir aber wirklich zur Lösung der Problemfragen?

Puh! Große Fragen. Und ich bin nur Liedermacherin. Keine Politikerin. Da man aber das, was im Kleinen funktioniert, auch ab und an ganz gut aufs Große übertragen kann, weiß ich, dass man im Kleinen nichts erreicht, wenn man auf seiner Meinung beharrt und noch weniger, wenn man sein Gegenüber nur schwarz oder weiß sieht oder eben nur gut oder nur böse. Da wären wir wieder bei Liliane Juchli: Den Menschen als Ganzes zu sehen.

Im Kleinen bringt es etwas, sich an einen Tisch zu setzen. Jeder schildert, wie er die Problemsituation wahrnimmt, welche Bedürfnisse er dabei hat, und welche Wünsche er damit verbindet. Der Andere tut das Gleiche. Oft merkt man dann, dass man das Gleiche will, nur Worte und Handlungen anders interpretiert hat oder Hintergrundinformationen gefehlt haben. Zack. Man kann sich auf einem gemeinsamen Nenner einigen. Zack. Problem gelöst. Kann man das aufs Große übertragen? Sicher sehr viel schwieriger, weil viel mehr Menschen am Prozess beteiligt wären, aber fernab, ob das übertragbar ist oder nicht: Ein Problem, das eine Gemeinschaft betrifft, kann nachhaltig auch nur gemeinschaftlich gelöst werden. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Aber schau ich auf das große Ganze, stellt sich mir die Frage, ob die Suche nach Lösungen nicht nur ein Herumdoktern an Symptomen ist, weil das Grundproblem eigentlich wo ganz anders liegt.

Schauen wir uns die Stellung von sozialen Berufen in einem System an, dann wissen wir, was im Mittelpunkt des Systems steht. Der Mensch ist es bei uns auf jeden Fall nicht. Im Mittelpunkt unseres Systems steht das Geld und es ist eine logische Konsequenz, dass, wenn eine Sache im Zentrum eines Systems steht, dass dieser Sache alles untergeordnet wird. Auch der Mensch. Nicht der Mensch bestimmt das System, sondern das Geld, die Wirtschaftlichkeit, der Gewinn bestimmt den Menschen. Auch im Gesundheitssystem. Auch in der Pflege. 

Doch ein vom Menschen geschaffenes System, das den Menschen selbst abschafft, gar auffrisst, ist ein fehlerhaftes System. Und ein fehlerhaftes System bedarf eigentlich einer Neuerung, einer Überarbeitung oder muss ganz vom „Markt“ genommen werden. Im Zentrum eines vom Menschen geschaffenen Systems muss das Wohl des Menschen stehen. Man stelle sich vor, anstelle von „Und wieviel verdienst Du mit Deinem Beruf?“, würde man gefragt: „Und was tust Du für das Wohl des Menschen mit Deinem Beruf?“ Viele Problemfragen, auch die der Pflege, könnten wir so vielleicht viel einfacher und vor allem langfristig beantworten und um es mit einem meiner Lieblingszitate des Dalai Lamas zu sagen: "Menschen wurden erschaffen, um geliebt zu werden. Dinge wurden erschaffen, um benutzt zu werden. Der Grund, warum sich die Welt im Chaos befindet ist, weil die Dinge geliebt und die Menschen benutzt werden.“

 

Was wünschst du dir von den Leipzigern? Gerade jetzt?

Ich möchte mir nicht etwas von den Leipziger*innen wünschen, sondern ich möchte ihnen etwas wünschen. Ich wünsche Euch allen immer ein volles warmes Herz und dass jeder von Euch Menschen um sich hat, die sich ehrlich für Euch interessieren, die Anteil nehmen und die in jeder Lebenslage für Euch da sind. Die Euch auch mal die Meinung geigen, wenn es wichtig ist, die Euch aber auch in den Arm nehmen, wenn gerade alles zusammenzubrechen scheint. Denn gerade in Krisenzeiten ist Zusammenhalt wichtiger denn je. In diesem Sinne bleibt gesund und passt gut auf Euch und die Anderen auf!

 

Danke, liebe Nadine Maria Schmidt. Danke für dein Engagement.

Nadine Maria Schmidt
www.nadinemariaschmidt.de

Aktion „Pflege braucht mehr als das Klatschen von Balkonen“
www.nadinemariaschmidt.de/pflege

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