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Wir hatten ja nichts …

Gespräch mit Frank Bröker „Dr. Pichelstein“

Künstler – wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben – sind zumeist mehr als ein paar Lieder und das Können, die Gitarre zu bedienen. Und so kommt es, dass der The Russian Doctors-Schnellgitarrist Frank Bröker „Dr. Pichelstein“ eben nicht nur sein Gerät beherrscht, sondern auch einen Hauptjob hat und Bücher schreibt. Ahoi-Redakteur Volly Tanner zupfte an den unterschiedlichsten Begabungen des Doctors, um mehr zu erfahren. Hier das Ergebnis:

The Russian Doctors
Frank Bröker „Dr. Pichelstein“ - der schnellste Akustik-Gitarrist der Welt (mit Makarios) © The Russian Doctors

Ahoi: Guten Tag, Herr Bröker. Wir haben uns aber lange nicht gesehen. Schade eigentlich. Doch so sammeln sich Fragen und Sie dürfen antworten. Zuerst die Musik: Ihre Kapelle The Russian Doctors hat gerade ein neues Album unter der Weste. Erzählen Sie mal bitte, um was sich das gute Stück dreht. Und warum es doch so lange dauerte, es herauszubringen.

Wie so oft kann man davon ausgehen, dass unser seliger Russendichter Pratajev textlich hinter all dem steckt. Diesmal, zum 11. Album, beschert er uns ein inhaltlich geschlossenes Ganzes, bestehend aus CD, LP und einer Bonustrack-EP. Schöne Schöne und böse Böse liefern sich auf „Die Schönen und die Bösen“ ein schnelles Rennen, welches am Ende ganz klar vom Siebenminutenstück „Der Gärtner” gewonnen wird. All das versehen mit einem opulenten Beiheft und Illustrationen von Die Zucht-Gitarrist Jasper Fryth. Ans Licht der Welt sollte alles viel früher. Aber erst durften wir aus bekannten Corona-Gründen nicht ins Studio, dann verzögerte sich die LP-Pressung wegen maximaler Auslastungen in den wenigen Presswerken, die es noch gibt. Im September sollte Premiere sein, doch kurz vorher rief das Label an und sagte: „Jungs, keine Chance, wartet noch einen Monat.“ Jetzt das Ergebnis in Händen zu halten, ist schon ein Segen. Selbst mein 80-jähriger Vater hört die Platte rauf und runter. Ein Segen übrigens aus Öko-Vinyl, Klimaschutz lässt grüßen.

 

Ahoi: Und wie kommen interessierte Menschen nun zum Rundling hin?

Sofern kein Konzertbesuch am Merchstand möglich ist (wir sind ja spätestens seit Corona die Privatparty-Gig-Weltmeister), bestenfalls eine Shopping-Tour in unserem Online-Kaufmannsladen auf upsound.de unternehmen oder direkt beim Major Label, die haben für uns extra einen Chapter namens „Health Angels“ eingerichtet. Das „Streamen“ in den Music Stores zögern wir noch eine Weile hinaus, denn das ist schon eine Enteignungsmaschine. Du bekommst pro Song-Download ca. 40 Cent gutgeschrieben. Das Abhören bei zum Beispiel „Spotify“ (aber nur, wenn mehr als die Hälfe eines Titels gespielt wurde) bringt sage und schreibe 0,3 Cent auf die Gehaltsliste. Das teilt dir die GEMA einmal im Jahr auf sehr vielen Seiten Papier mit. Einmal sind wir von den Online-Einnahmen unseres Gassenhauers „Tote Katzen im Wind“ Essen gegangen. Bockwurst an der Tanke. Glücklicherweise gibt es aber doch viele Menschen, die auf Haptisches stehen, die ein Produkt in Händen haben möchten, und es mit viel Liebe auf einem Plattenspieler drehen lassen.

 

Ahoi: Musik begleitet ja schon seit Jahrzehnten Ihr Leben – da waren feine Kapellen wie die Fette(n) Helden. Sie galten jedoch auch als einer der Wegbereiter der Social Beat Literaturszene dieses Landes. Wo ist sie aber jetzt: Ihre Poetry?

Oh ja, Social Beat in den 1990ern, eine ziemlich verrückte Zeit. Literarische Gertenschläge auf die nackte Haut nach Art weißrussischer Saunagänge, Punk und Poesie statt Kulturkreis mit Häppchen. Ich hatte meistens eine Hannes Wader-Gitarre dabei und die größten, ausufernden Abende fanden in Cottbus, Berlin und Leipzig statt. Dann hat uns der 5-Minuten-Poetry Slam! überholt und jetzt stehen Comedians wie Hazel Brugger auf der Bühne. Alles sehr erfolgreich, alles sehr Mainstream. Und meine Poetry arbeitet sich nun, nachdem ich vor 18 Jahren von Münster nach Leipzig zog, mehrheitlich im Forscheruniversum des russischen Dichters Pratajevs ab. Das liegt als Vorsitzender der Pratajev-Gesellschaft e.V. in der Natur der Sache und bringt schöne Bücher, wie die „Haus aus Stein“-Reihe im Verlag Andreas Reiffer, hervor.

 

Ahoi: Und dann Ihre Romane, aber Hossa! Man erliest sich eine gewisse Affinität zum hiesigen Eishockey. Wie kam es und welcher Verein ist es und wie drücken Sie es wo literarisch in die Welt?

Eishockey war schon in früher Kindheit super. Als es noch klirrend kalte Winter gab, jagten wir mit selbstgebastelten Holzschlägern Pucks auf dem Dorfteich hinterher. Die Pucks waren aus alten Traktorreifen. Wir hatten ja nichts, damals im nördlichen Westen (zumindest kein Amazon) … Ich zog dann viel um; nur während der Zivi-Zeit in Nordhorn gab es eine Eishalle mit Hockey drin. Und dann wieder eine in Leipzig. Mein Sangesdoktor Makarios schlug mir zu Anfang unserer Russian Doctors-Zeit vor, gemeinsam hinzugehen. In der Alten Messehalle 6 würden die Blue Lions gegen den Erzfeind aus Halle die Schläger kreuzen. Es war bombastisch. Seitdem habe ich kaum ein Spiel verpasst und stehe jetzt im Fanblock A der Icefighters im Kohlrabizirkus. Wobei „stehen“ nicht ganz passend ist. Eher hüpfend. Jedenfalls maximal außer mir und immer aufgeregt. Kein Vergleich mit Fußball, so ein Eishockeyspieltag. Viel intensiver, schneller und härter. Auf unseren Non-Pratajev-Bonustrack in der CD-Edition der „Schönen und die Bösen“ bin ich besonders stolz. Der heißt schließlich „Icefighters” und hat das Zeug zur Stadionhymne. Das mit der Zeit bisher sieben Eishockeybücher, vom Fachbuch bis zum Kanada-Thriller, entstanden und verlegt wurden, hat sich einfach so ergeben.

 

Ahoi: Zurück zu The Russian Doctors und den großen russischen Schriftsteller Pratajev, dessen Werk Sie ja weiterhin vor dem Vergessen schützen. Wer war dies denn, dieser Pratajev? Viele nach Leipzig Neugekommene haben ja von solchen Menschen kaum bis keine Ahnung. Erläutern Sie doch bitte mal dem Jungvolke, wo die Wichtigkeit Pratejevs für unseren Kulturkreis herkommt....

S.W. Pratajev wurde 1902 in Kurtschinsk-Robersk geboren. Sein Vater sammelte Heilkräuter, seine Mutter war Kuhbürsterin. Schnell kapierte der talentierte junge Pratajev, dass das ärmliche Leben seiner Familie nicht den eigenen Idealen entsprach, er wollte hoch hinaus, zumindest weg aus der vom Permafrost bedrohten Gegend im Mittleren Ural. In seiner Spätjugend wurde er Mineralwasserquellenbesitzer, Verkoster für kommunistische Parteigrößen, Holzkarussellführer. Dann Hilfszahnarzt, Maler, Hobbyorthopäde, Biberbeobachter, Verfasser medizinischer Schriften, Entdecker von Krankheiten („Lungenschizophrenie“) und schließlich der berühmteste der unbekannten Dichter in den Weiten Russlands. Eine wahnsinnige, eine ergreifende Karriere, die uns täglich beeinflusst. Doch die wenigsten Menschen wissen das. Wörter wie Pissoir, Pistole, Pilze oder Städte wie Pirna wären ohne Pratajevs Pi-Kürzel nicht möglich gewesen. Auch könnten große Teile der architektonischen Philosophie einpacken, gäbe es nicht das Pratajev-Bildnis des „Vereinsamten Brückenbauers“. Als Symbol des Zueinanderfindens.

 

Ahoi: Im kunstfreien Raum, wenn man es so denken darf, sind Sie ein Bröker, der in einer psychiatrischen Einrichtung arbeitet. Nun war ich da noch nie Gast und habe mein Wissen eher aus „Einer flog übers Kuckucksnest“. Was machen Sie denn da ganz genau und mit wem?

Mein Hauptjob, der mich strukturiert, mich gerecht bezahlt, und der mir auch noch sehr viel Spaß macht, ist der eines Sozialarbeiters in der Psychiatrie und Psychosomatik-Landschaft. Ich mach das jetzt schon 16 Jahre und möchte auch gar nicht mehr woandershin wechseln. Man stelle sich das so vor: Klienten kommen mit egal welchen Notlagen zu mir und gemeinsam nehmen wir den Kampf zurück ins Leben auf. Das ist oftmals ein langer Weg. Sozialarbeit spielt dabei aber eine entscheidende Rolle; nicht jede Krankheit lässt sich ausschließlich mit Medikamenten in die Knie zwingen. Es geht um Soziale Teilhabe, Re-Integration ins Arbeitsleben, gemeindepsychiatrische Anbindung, ums Zuhören, Trösten und Handeln, um die Entstigmatisierung.

 

Ahoi: Die Welt, so wie sie ist und organisiert wird, sorgt ja doch für immer mehr Klientel Ihrer realen Arbeit, so ist mein Eindruck. Sie als Praktiker – was muss geändert werden, um wieder in einen Heilungsprozess eintreten zu können? Ist Heilung überhaupt möglich?

In der Zusammenschau gibt es nichts Schöneres, als in einem Job zu arbeiten, um sich letzten Endes überflüssig zu machen. Der Weg dahin ist mit sehr viel Bürokratie gepflastert, die kein Mensch ohne fachliche Recherche durchschaut. Erst recht dann nicht, wenn das Krankheitsbild ein psychiatrisches darstellt. In einer gesundheitlichen Krise schaffe ich es kaum aufs Klo, soll aber auf eine Anhörung des Jobcenters reagieren, weil Tante Martha letzten Monat 10 Euro überwiesen hat, die es nach einer Tiefenprüfung der Kontoauszüge nun hurtig zu erklären gilt. Reagiere ich nicht binnen 14 Tagen, folgt die Sanktion und dann noch eine wegen eines verpassten Telefontermins, der einfach nicht klappte. Am Ende werden die Leistungen wohlmöglich eingestellt und ich lande auf der Straße. Kurzum: es braucht mehr Hilfe vor Ort, mehr Behördeneinfühlungsvermögen, mehr gute Nachbarschaft, mehr Aufmerksamkeit. Alles mehr von dem, was eine Hilfe im persönlichen Umfeld der erkrankten Menschen darstellt. Man muss zumindest an diesem Punkt ganz klar sagen: In der DDR war es einfach mal besser organisiert. Da gab es ein Fürsorgesystem, die Polikliniken, eine funktionierende Gemeindepsychiatrie uvm. Das krasseste Gegenbeispiel sind die heutigen, aus privatwirtschaftlicher Hand finanzierten Einrichtungen. Der Patient als Teil eines Aktionärsmodells.

 

Ahoi: Danke für Ihre Zeit, Herr Pichelstein-Bröker. Und beste Grüße an Makarios.

The Russian Doctors im Netz:

www.upsound.de

 

Major Label im Netz:

www.majorlabel.com

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