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  • Interviews
Vermittlung, Beratung, Unterstützungsbedarf

Gespräch mit der Leipziger Senioren-Beauftragten Kerstin Motzer

Am 29.09.2021 findet der Tag der Seniorinnen und Senioren in Leipzig statt – coronabedingt nur digital. Nicht nur zu solch einem Event sollten die Blicke der politischen Entscheider und auch die aller anderen Menschen auf den Problemlagen der Älteren liegen, sondern auch an allen anderen Tagen. Dafür stark macht sich auch Frau Kerstin Motzer, Beauftragte für Seniorinnen und Senioren der Stadt Leipzig. Was sie zu sagen hat, erfragte Ahoi-Redakteur Volly Tanner:

Einige Publikationen aus dem Referat © Volly Tanner

Ahoi: Guten Tag, Frau Motzer. Sie sind Beauftragte für Senioren und Menschen mit Behinderung in der Stadt Leipzig. Nun gibt es gefühlt in Leipzig 223 Vereine, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzen, nur "die Älteren" haben nicht so wirklich Lobby. Deshalb wollen wir uns den Menschen zuwenden, die im großen Transformationsprozess Leipzigs oft hinten herunterfallen.

Motzer: Seit 2002 bin ich Beauftragte für Seniorinnen und Senioren. Beauftragte für Menschen mit Behinderungen ist meine Kollegin Kerstin Baldin. In Leipzig existieren viele Vereine, zahlreiche Begegnungsstätten und Anlaufstellen für ältere Menschen. Ich denke da nicht nur an die Vereine Volkssolidarität, Aktive Senioren und den Caritasverband, sondern auch an Bürgervereine oder Soziokulturelle Zentren. Die Palette ist größer als gedacht. Seit über 30 Jahren gibt es den Leipziger Seniorenbeirat, der sich für die Interessen der älteren Menschen einsetzt und aktiv Lobbyarbeit betreibt. Immerhin ist es dem Beirat über das sogenannte Antragsrecht im Stadtrat gelungen, Seniorenbüros mit Begegnungsstätten und Fachkräften einzufordern. Ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf werden dort fachgerecht beraten. Der Seniorenbeirat setzt sich zum Beispiel auch für Bänke oder Toiletten im öffentlichen Raum ein. Außerdem ist ihm die altersgerechte Gestaltung von Fußwegen sehr wichtig. 

Ahoi: Mit den Seniorenbüros hat Leipzig eine faszinierende Infrastruktur. Wie weit unterstützt die Stadt die Arbeit der dort Agierenden?

Motzer: Die Stadt Leipzig fördert Seniorenbüros und Begegnungsstätten mit der Finanzierung von Fachpersonal und der Übernahme von Sachkosten für den laufenden Betrieb. Darüber hinaus werden durch städtische Mitarbeitende in den Einrichtungen Vorträge gehalten oder Beratungen und Kurse durchgeführt. Die in den Seniorenbüros und Begegnungsstätten Tätigen haben die Möglichkeit, in regelmäßig von der Stadt Leipzig organisierten Arbeitskreisen in Erfahrungsaustausch zu treten. Im Sozialamt stehen Ansprechpartnerinnen und –partner für Fragen der Träger zur Verfügung. Organisatorische, strukturelle oder fachinhaltliche Themen können angesprochen und geklärt werden. Unterstützung wird auch bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten gegeben. 

Ahoi: Was bedeutet das konkret, dieses "Seniorensein"? Welche Problemstellungen sehen Sie als Beauftragte? Was können Sie tun?

Motzer: „Senior/-innensein“ kann man beispielsweise am chronologischen Lebensalter festmachen, also ab 65. Das chronologische Alter dient jedoch eher der Institutionalisierung von Lebensläufen, also beispielsweise mit 6-7 Jahren in die Schule kommen, mit 18 Jahren volljährig werden und mit 65 Jahren in Rente gehen. Der Übergang in den Ruhestand wird immer flexibler und ist nicht an ein bestimmtes Alter gebunden. Wenn die Statuspassage „Übergang in den Ruhestand“ überschritten wurde, kann man sich als „Senior/-in“ bezeichnen. Ich erlebe aber, dass sich Menschen nicht als solche bezeichnet wissen wollen, weil ihr „Bild“ davon negativ besetzt ist und sie sich nicht zugehörig fühlen. 

Die Wissenschaft unterscheidet aktuell zwischen dem dritten und vierten Lebensalter der Menschen in Mitteleuropa. Das dritte beginnt mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben und ist von Aktivität, Fitness und Gesundheit geprägt, das vierte Lebensalter ist durch Verluste von Gesundheit und Partnerschaft und durch Pflegebedürftigkeit charakterisiert (etwa ab dem 85sten Lebensjahr). 

Als Beauftragte biete ich beispielsweise Vermittlung und Beratung an. Den jüngeren Senior/-innen im dritten Lebensalter zeige ich Engagementmöglichkeiten in Vereinen und Begegnungsstätten auf, verweise auf Bildung und Kurse. Die hochbetagten älteren Personen im vierten Lebensalter berate ich beispielsweise zu Wohn- und Pflegeformen. 

Weiterhin unterstütze ich die Vorbereitung zum Tag der Seniorinnen und Senioren in Leipzig (am 29.09.21, 09-12:30 Uhr), veröffentliche Ratgebermaterial (Guter Rat für Ältere) oder bringe mich in Fachkonzepte und Projekte ein.

Ahoi: Dass Menschen über 50 in der Regel nicht mehr jede Nacht durchfeiern möchten, scheint logisch. Schließlich haben sie auch ein Tageswerk zu erledigen und sind auch nicht mehr permanent auf der Balz. Glauben Sie, dass das Recht des einzelnen Menschen auf Ruhe und Sicherheit in Leipzig überhaupt debattiert wird? Woran liegt es, dass es bei der Verdrängung älterer Menschen durch "die Szene" keinen Aufschrei gibt?

Motzer: Ein Recht auf Sicherheit und Ruhe hat grundsätzlich jeder Mensch. Es ist nicht nach Altersgruppen gegliedert, ungeteiltes Recht eben. Der Bedarf nach Ruhe und Entspannung oder das subjektive Sicherheitsempfinden sind zweifellos sehr individuell und gegebenenfalls mit gegensätzlichen Erwartungen verbunden. Überall in Leipzig leben ältere Menschen, am Stadtrand sicher weniger als in großen Wohnsiedlungen. Eine Verdrängung älterer Menschen durch eine nicht näher bezeichnete „Szene“ kann ich jedoch nicht erkennen. Unsere vielgestaltige Leipziger Stadtgesellschaft bietet Platz für die individuelle und gemeinschaftliche Verwirklichung unterschiedlicher Lebensstile. Wichtig ist, sich auch bei Gegensätzen mit Wertschätzung und Respekt und ohne Gewalt zu begegnen. Gerade im letzten Jahr gab es eine große Welle der Solidarität und Unterstützung im Lockdown. Ruhe und Sicherheit wird natürlich in Leipzig debattiert und der Einsatz der Polizeibehörde ausgeweitet. Ruhe und Sicherheit ist auch durch zunehmenden Verkehr gefährdet.

Ahoi: Welche Hilfe können Sie organisieren? Was genau macht Ihr Referat und mit wie vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können sie arbeiten?

Motzer: Unser Referat ist direkt dem Bürgermeister für Soziales, Gesundheit und Vielfalt zugeordnet. Neben der Beauftragten für Menschen mit Behinderungen und mir als Beauftragte für Seniorinnen und Senioren ist im Referat eine Schreib- und Verwaltungskraft beschäftigt. 

Durch unsere Zusammenarbeit mit anderen Ämtern der Stadtverwaltung können wir zielgerichtet wirken. Werden mir beispielsweise Einzelfälle bekannt, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden, informiere ich das Sozialamt. Werden Bordsteinabsenkungen an betreuten Wohnanlagen notwendig, spreche ich das Verkehrs- und Tiefbauamt an. Ich nehme dabei eine vermittelnde, verweisende Rolle ein. Zu dem was sonst noch von uns geleistet wird, habe ich mich schon oben geäußert.

Ahoi: "Die Älteren" werden von vielen politisch aktiven Menschen gern abgestempelt. Was fühlen Sie, wenn der rassistisch-sexistisch-altersdiskriminierende Begriff "alter, weißer Mann" in politischen Prozessen benutzt wird?

Motzer: Ich wende mich entschieden gegen jede Form von Altersdiskriminierung, die sich meist in alltäglichen, infrastrukturellen Hürden äußert und zur Einschränkung von Teilhabe und selbstbestimmter Lebensweise führt. Die in Medien und Alltagsgesprächen transportierten negativen Bilder, Aussagen und Bezeichnungen, unter anderem auch in Bezug auf die ältere Generation, teile ich nicht. Sie bedienen Klischees beziehungsweise Vorurteile. Die Lebensleistung älterer Frauen und Männer wertzuschätzen und zu achten ist Aufgabe unserer Gesellschaft. Der Seniorenbeirat hat dies in einer kleinen Broschüre zum „Bild des älteren Menschen“ schon vor Jahren deutlich gemacht.

Ahoi: Der gesellschaftliche Respekt vor Lebensleistungen ist jedoch nicht vermarktbar und schwindet deshalb immer mehr. Wenn ich im Erzgebirge bin, werden ältere Menschen aus meiner Erfahrung, weit mehr in Prozesse eingebunden. Damit kommen wir zum großen Problem der Einsamkeit. Wie viele einsame und alleingelassene ältere Menschen gibt es in unserer Stadt und was können wir alle gegen diese Einsamkeit tun?

Motzer: Alter und Einsamkeit sind in unserer Vorstellung eng miteinander verknüpft. Insbesondere im höheren Lebensalter steigt die Wahrscheinlichkeit, den Verlust von Partner/-in oder Freunden zu erleben und dadurch Einsamkeit zu empfinden. Indizien für Einsamkeit können auch die Anzahl der Alleinlebenden und die Haushaltsgrößen sein. Alleinleben kann sowohl positiv als auch negativ empfunden werden. Daher lässt sich eine Anzahl einsamer oder allein gelassener Menschen nicht ermitteln. Entscheidend für subjektives Einsamkeitsempfinden ist die Zahl der sozialen Kontakte. Wer kaum soziale Kontakte und Netzwerke hat, kann einsam oder gar isoliert sein. Kinderlosigkeit ist ein wichtiger Faktor von Einsamkeit im Alter, besonders im sehr hohen Alter ist dies spürbar. Menschen mit Mobilitätseinschränkungen können an Einsamkeitsgefühlen leiden, da sie womöglich nicht am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können. Gegen Einsamkeit kann schon durch gemeinschaftliches Verhalten im Wohnhaus gewirkt werden. Gespräche und Besuchsdienste oder das Angebot von Fahrdiensten sind hilfreich. Der Erhalt und die Erweiterung der dezentralen Begegnungsmöglichkeiten mit einfühlsamen Fachkräften soll dem Einsamkeitsempfinden Älterer begegnen. 

Auch bürgerschaftliches Engagement kann der sozialen Integration dienen und Einsamkeit vorbeugen. Ältere Menschen ehrenamtlich, beispielsweise in die Arbeit der Begegnungsstätten einzubinden, stellt einen wichtigen Ansatz in der Seniorenarbeit dar.

Ahoi: In Grünau gibt es Wohnkomplexe ohne ein einziges Café, in dem sich ältere Menschen treffen können. Bibliotheken sollen zusammengelegt werden, was ältere Menschen ebenfalls in die Einsamkeit drückt. Wer engagiert sich eigentlich in unserer Stadt für ältere Menschen? Wer gibt ihnen eine Stimme? Wer klopft auch mal auf den Tisch?

Motzer: Ältere Menschen immer wieder auf die Begegnungsangebote, die es auch in Grünau gibt, aufmerksam zu machen, ist Aufgabe von uns allen und besonders natürlich derjenigen, die in der Seniorenarbeit tätig sind. Die Seniorenbüros in den Stadtbezirken, das Quartiersmanagement und der Seniorenbeirat wären Stellen, wo Probleme aufgezeigt werden können, aber auch bei den Stadtbezirksbeiräten, Ortschaftsräten und einzelnen Stadträtinnen und –räten. Die Stadt hat keinen direkten Einfluss auf die Ansiedelung von Cafés oder Gaststätten, aber sich für mehr Begegnungsorte, Stadtteilläden oder Bibliotheken einzusetzen ist ihre Aufgabe und im Integrierten Stadtentwicklungskonzept verankert. 

Ahoi: Als älterer Mensch in der Innenstadt zu leben, stelle ich mir schwer vor. Auch andere Viertel sind eine Herausforderung, zu laut, zu schnell, zu hip, zu rücksichtslos. Was machen aber von Altersarmut betroffene Menschen, die können sich ja kein Haus im Speckgürtel leisten. Welche Unterstützung für ein Leben in Würde im letzten Drittel gibt es?

Motzer: Für einige ältere Menschen bietet die Innenstadt Vorteile, etwa die gute Erreichbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln, ein reichhaltiges Angebot an Geschäften, Abwechslung und teilweise Wohngebäude mit Aufzug. Andererseits kann das ständige Treiben in der Innenstadt zur Belastung werden und einen Umzug erforderlich machen. In der Beratungsstelle Wohnen und Soziales des Sozialamtes wird man bei der Suche nach barrierefreien Wohnraum und bei der Beantragung von Wohngeld oder Grundsicherung unterstützt. 

In den Begegnungsstätten gibt es Angebote, die kostenfrei genutzt werden können. Menschen, die von Altersarmut betroffen sind und einen Leipzig-Pass besitzen, können weitere Vergünstigungen, wie z.B. die Leipzig-Pass-Mobilcard in Anspruch nehmen. 

Ein großes Problem stellen die steigenden Kosten in Altenpflegeheimen dar. Die Eigenanteile der Bewohnerinnen und Bewohner sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Hier braucht es Entscheidungen des Bundes im Zusammenhang mit der gesetzlichen Pflegeversicherung.

Ahoi: Danke, liebe Frau Motzer. Ich hoffe darauf, dass manch "solidarischer" Blick auch mal ältere Menschen und ihre Bedürfnisse trifft.

Motzer: Ich bin sicher, dass ältere Menschen im Blick sind. Das Thema Alter und Altern betrifft uns alle - früher oder später!

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