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Widerspruchslos in Leipzig verliebt

Gespräch mit der Pop/Jazz-Studentin an der „Felix Mendelssohn Bartholdy“-Hochschule, Sonya Sytnyk

Was machen die da eigentlich in der Leipziger HMT? Und was sind das für Menschen, die da was machen? Ahoi-Redakteur Volly Tanner schrieb sich für dieses Gespräch mit Sonya Sytnyk, welche in Leipzig studiert und ihre Sicht auf die Weltmusik Jazz, Bach und neben vielen Anderen auch auf die Leipziger Einflüsse auf die ukrainische Kunst hat. Hochinteressant, etwas lang – aber voller menschlicher Wärme:

Sonya Sytnyk, eine Weltfrau in Jazz lernt und (ver)liebt in Leipzig
Sonya Sytnyk, eine Weltfrau in Jazz lernt und (ver)liebt in Leipzig © Yaroslawa Lopatenko

Ahoi: Guten Tag, liebe Sonya Sytnyk. Ich höre gerade deine extrem starke Elektrojazz-Nummer „Autumn Came Round“. Da ist echt viel Soul drin. Wie und wo und mit wem gemeinsam entstand denn diese Nummer?

Sonya: Guten Tag, lieber Volly, ich bin sehr dankbar für diese herzliche Einladung zum Interview und ich freue mich sehr über die Fragen.

Autumn came round“ war mein erstes Lied, das ich mit 17 zusammen mit einem Freund von mir Yaroslaw Wowtschenko in Kyjiw geschrieben habe. Es handelt von der melancholischen Stimmung, die sehr typisch für den Herbst ist und der Gemütlichkeit, nach der wir besonders während dieser Zeit streben. Ich habe versucht, das Lied wirklich bilderreich zu kreieren, so dass jeder/jede, der/die es anhört, dieses Sujet im Kopf schnell illustrieren kann und die Herzlichkeit in die Seele bringt.

Für diesen Song bin ich vor allem Yaroslaw dankbar. Eigentlich war das nämlich seine Idee und Initiative, die ich dann später mit großer Freude unterstützt habe. Wir sind uns zufällig in einem English Kurs begegnet. Yaroslaw beschäftigt sich professionell mit dem Schreiben von Beats. Als er mich singen hörte, bot er an, etwas zusammen zu machen. Der Text und die Melodie waren meine Verantwortung. Damals hat unsere künstlerische Kooperation angefangen.

 

Ahoi: Du wurdest in Browary in der Oblast Kyjiw (Oblast gleich Region) in der Ukraine geboren, hast Pop, Klassisches Piano, Jazzgesang in Kyjiw studiert. Jetzt bist Du in Leipzig an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Pop/Jazz-Singing eingeschrieben. Wie und warum hast Du Dich für Leipzig entschieden?

Sonya: Als ich fünf war ist unsere Familie nach Kyjiw umgezogen. Ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit und dies immer mit einem Lächeln, weil ein bedeutsames Kriterium für meine Mutter war, die Wohnung in der Nähe von der Musikschule zu finden. Und es ist so passiert. Das Erste, was wir am nächsten Tag nach dem Umzug gemacht haben, wir sind in die Musikschule gegangen und haben mich für den Klavierunterricht eingeschrieben. Das war der Anfang meiner musikalischen Karriere. Damals könnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich dann in 12 Jahren nach Leipzig fahre und in einer der besten Musikhochschulen Deutschlands studieren würde.

Mein großer Wunsch und Traum nach Deutschland zu fahren hat mit meiner Liebe zur deutschen Sprache angefangen, die Pflichtfach in unserer Schule in den letzten Klassen war. Hauptsächlich hat mir diese Fremdsprache aus der musikalischen Perspektive gefallen - der Klang und die allgemeine Stimmung, die da drinsteckt. Etwas, was eigentlich sehr schwierig zu beschreiben ist. Außerdem habe ich schon in der Schule ein paar Erfolge erzielt und verschiedene Schulolympiaden gewonnen. Aber das Interessanteste ist in der 9. Klasse gekommen, wo ich glücklicherweise das Stipendium vom Goethe Institut erhalten habe und die Möglichkeit hatte, dort Deutsch absolut kostenlos zu lernen. Das war eine große Chance für mich. Ich habe nicht nur die Sprache gelernt, sondern durfte auch in die deutsche Kultur eintauchen. Und, was auch super wichtig ist: wunderschöne Menschen kennenlernen. Damals habe ich auch zum ersten Mal für mich Leipzig entdeckt und was mir wirklich faszinierte war die Liste von Musiker*innen, die mit dieser Stadt verbunden und assoziiert werden: Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Clara und Robert Schumann, Richard Wagner, Edward Grieg, Mykola Lysenko. Diese Namen zeigen, dass es eine starke musikalische Tradition in Leipzig gibt und das dies ein Ort ist, wo man sich als Künstler*innen realisieren kann. Auf solcher Weise habe ich die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ gefunden.

Vor den Aufnahmeprüfungen habe ich viel im Internet recherchiert, verschiedene Bilder und Videos von Studenten gesehen, Modulordnungen und Studienpläne gelesen. Ich habe für mich verstanden, dass ich mich hier nicht nur als professionelle Musikerin, sondern auch, was viel wichtiger ist, als Künstlerin und Persönlichkeit mit einiger Mission und Botschaft entwickeln könnte.

 

Ahoi: Im September warst Du Teil des New York Voices International Vocal Jazz Camp und bist gemeinsam mit dem Landes Jugend Jazz Orchester Bayern aufgetreten. Kannst Du uns da etwas dazu erzählen? Wie kam es dazu und wie fühlte es sich an?

Sonya: Das war eine tolle Erfahrung, die ich diesen Sommer gemacht habe. Ich habe das Stipendium von den New York Voices - das ist eine legendäre Vokalgruppe aus den USA (Darmon Meader, Lauren Kinhan, Peter Eldridge und Kim Nazarian), die Auftritte überall auf der Welt machen und auch ihre Workshops dazu anbieten, und zwar das Memorial Stipendium von Tobias Hug – ein prominenter Basssänger und Beatboxer aus Deutschland, der auch ein Mitbegründer vieler Festivals war, wie Black Forest Voices Festival zB. und der ein langjähriges Mitglied der renommierten „Swingle Singers” war, erhalten. Diesmal hat das Camp an der Bayerischen Musikakademie in Marktoberdorf stattgefunden. Was für eine tolle Atmosphäre!!

Jeden Tag von 08.30 bis 22.00 Uhr haben wir zahlreiche Kurse besucht, wie Advanced Improvisation bei Darmon Meader zB. oder The Art of Reinvention bei Peter Eldridge, wo wir verschiedene Jazz- und Pop-Lieder anders interpretiert haben. Das Vokalensemble bei Lauren Kinhan hat auch viel Spaß gemacht. Außerdem hatten wir die Möglichkeit, das Konzert von New York Voices zu besuchen und selbst die Konzerte am Ende des Camps zu machen, wo wir zusammen mit Mitgliedern des Landes Jugend Jazz Orchesters Bayern gespielt haben. Das war sowohl für uns Sänger*innen eine gute Gelegenheit mit solchen Musikern zu spielen, als auch für die Jungs aus dem Orchester ein extra Praktikum mit uns zu arbeiten. Es war auch wirklich toll, die Studenten aus unserer Hochschule in diesem Orchester zu treffen und mit den anderen Kollegen*innen zu reden, die auch viele Musiker*innen aus der HMT kennen. Die Jazz-Welt ist riesig groß und klein gleichzeitig und es ist ein wunderbares Gefühl, gute Freunde deutschlandweit und überall auf der Welt zu haben. Ich würde auf jeden Fall jedem/jeder empfehlen, sich mal für dieses Programm zu bewerben.

 

Ahoi: Zurück nach Leipzig. Bei wem studierst Du in Leipzig eigentlich? Wer sind Deine Lehrerinnen und Lehrer und wie beeinflussen diese Deinen Gesang?

Sonya: Ich studiere bei Prof. Evelyn Fischer – Dekanin unserer Jazz-Pop Abteilung und Professorin für Gesang und Methodik und Pascal von Wroblewsky – eine extrem berühmte Jazz-Sängerin und Schauspielerin aus Berlin. Mit Prof. Evelyn Fischer machen wir überwiegend verschiedene Übungen für die Atmung, Stimmpflege, tauchen in die zahlreiche Vokaltechnics ein und setzen diese in verschiedene Kompositionen um. Außerdem haben alle Studenten*innen die Möglichkeit, Teil des Vokalensembles und bei den großen Projekten zu sein. Mit Pascal von Wroblewsky liegt der Fokus auf Jazz und zwar Jazz-Stilistik, Improvisation und wie man moderner und innovativer bekannte Jazz-Standards interpretieren kann. Außer Gesang habe ich auch die Klavierunterrichte bei Lora Kostina, Schauspiel bei Frank Leo Schröder, Sprechen bei Antje Manhenke, Improvisation bei Christoph Adams, Solorepetition mit Jörg Leistner, viele interessante theoretische Fächer. All das prägt dich als eine echte Künstlerin und eine kreative Persönlichkeit unserer Gesellschaft. Was mir an unserer Hochschule besonders gefällt, ist eine demokratische, warme Atmosphäre und die Art der Kommunikation zwischen Studierenden und Professoren. Die Letzteren sind die Leute mit einer großen künstlerischen Erfahrung, echte Profis, die aber gleichzeitig sehr freundlich, hilfsbereit und mit einem guten Sinn für Humor sind. Wir haben schon viele Projekte letztes Jahr gemacht, wie die Songwerkstatt zB. Das Konzept des vorigen Semesters war, ein Lied für jemanden anderen zu schreiben und dann schreibt jemand für dich auch ein Lied. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Song auf Deutsch geschrieben und den Song auch auf Deutsch gesungen. Die Komposition war auch ganz besonders, und zwar über Leipzig, die für mich Conrad Mummelthey kreiert hat. Das Publikum war begeistert und fasziniert. Was ich noch unbedingt erwähnen will, ist, wie viele unglaublich tolle Leute an unserer Hochschule studieren. Die Atmosphäre der Kreativität, die sie generieren, inspiriert und beflügelt. Meine Kommilitonen*innen nennen mich manchmal “unsere Sonya” und das gefällt mir sehr. Ich bin allen diesen Leuten für ihren großen Beitrag und Inspiration und für die Möglichkeit, ein Teil der HMT-Familie zu sein sehr dankbar.

 

Ahoi. Beim Durchforsten Deiner Internetportale stieß ich auf einen Post von Dir, der auf einen ukrainischen Studenten, der 1867-69 in Leipzig studierte – Mykola Lysenko – verwies. Wer war denn Lysenko und wie wird Lysenko heute in der Ukraine wahrgenommen?

Sonya: Mykola Lysenko ist der Vater der ukrainischen Musik, der prominente Komponist, Pianist, Dirigent, Pädagoge, Organologe und Ethnograph und ist bis heute in seinem Heimatland sehr beliebt und verehrt. Leipzig spielte eine ganz besondere Rolle in seinem Leben, weil er von September 1867 bis März 1869 am damaligen Leipziger Konservatorium unter der Matrikelnummer 1397 Klavier, Musiktheorie, Komposition und Tonsatz bei Ignaz Moscheles, Ernst Friedrich Richter, Ferdinand David, Carl Reinecke und anderen Musikgrößen studiert hat. Man kann sagen, dass die ukrainische Nationalmusik teilweise aus Leipzig stammt. Nur der Gedanke selbst, dass ich als Ukrainerin an solchem heiligen Ort studieren kann, macht mir crazy. Deswegen finde ich es wichtig, dieses Thema sowohl für meine Landsleute, als auch für meine Kollegen*innen aus Deutschland zu beleuchten. Lysenkos Biografie geht mir sehr nahe, seine Ambitionen, Träume, Erlebnisse, er wohnte sogar als Student in derselben Straße in Leipzig wie ich. Während der Kyjiwer Tage in Leipzig dieses Jahr habe ich auch ein Konzert an unserer Hochschule, welches der “60 Jahre Städtepartnerschaft Leipzig-Kyjiw“ gewidmet wurde, besucht. Dort hatte das Publikum die Möglichkeit, die Werke von Mykola Lysenko, Carl Reinecke und von Lysenkos Landsmann Viktor Kosenko zu hören. Studierende des Schauspielinstituts lasen aus Lysenkos Briefen. Was mich besonders berührt hat, war der Auftritt von Julian Dominique Clement, der Lieder von Lysenko interpretierte. Ich konnte die Tränen nicht aufhalten, so schön war das. Während der Pause, zwischen den zwei Teilen des Konzerts, habe ich mit ihm gesprochen und ihm für seinen Beitrag zu diesem Konzert gedankt. Als ein geehrter Gast ist zu dieser Veranstaltung Mykola Lysenkos Urenkel, der den gleichen Namen trägt, mit seiner Familie aus Kyjiw angereist. Während seiner Rede hat er ein Zitat von Gustav Mahler, das mir besonders gefallen hat, erwähnt. “Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme”. Ich bin damit ganz einverstanden und finde, dass eine meiner Missionen als Künstlerin ist, die Flamme, entsprungen aus Lysenkos Genialität weiterzugeben.

 

Ahoi: Und wie geht es jetzt in Leipzig weiter mit Dir?

Sonya: Es geht mir in Leipzig super, obwohl Leipzig zuerst überhaupt nicht “Herzlich willkommen” zu mir gesagt hatte. Heimlich gesprochen habe ich die Aufnahmeprüfungen auch in Jahr 2019 gemacht. Obwohl das Ergebnis damals erfolglos für mich war, da ich keinen Studienplatz erhalten habe, war das aber eine entscheidende Erfahrung für mich. Ich erinnere mich sehr gut, wie Prof. Evelyn Fischer zu mir gekommen ist und gesagt hat, wie schön sie meine Stimme findet und ich muss unbedingt noch mal mich vorbereiten und meine Kräfte akkumulieren. Zu diesem Zeitpunkt war das so wichtig für mich, solche Wörter zu hören und diesen Support zu fühlen. Außerdem, während der langen Reise nach Leipzig aus Kyjiw mit dem Umsteigen in München, habe ich meinen Flug verpasst und bin nach Leipzig viel später als geplant gekommen. Das ist aber nicht alles. Nach meinen Aufnahmeprüfungen wurde mein Flug zurück nach Kyjiw gecancelt. Diese Abenteuer habe ich für mich damals so interpretiert, dass die Stadt Leipzig mir zuerst keinen Zutritt geben wollte; aber nach dem kurzen Aufenthalt wollte sie mich auch nicht gehen lassen. Jetzt bin ich sehr glücklich, wieder hier zu sein. Der Hauptfokus liegt jetzt auf dem Studium. Ich bin 2020 nach Leipzig und überhaupt nach Deutschland umgezogen. Die erste Periode war ein bisschen schwierig für mich, vor allem wegen Corona. Trotzdem habe ich letztes Jahr ein Integrationsjahr für mich gemacht, mein Sprachniveau verbessert, mich als Künstlerin entwickelt. Ich sage auch „Vielen Dank“ an unsere Hochschule für die Möglichkeit, möglichst viel in Präsenz studieren zu können. Ich kann mir nur vorstellen, wie schwierig so was zu erreichen war und das schätzen wir, die Studenten*innen sehr. Ich habe jetzt viele Freunden hier, habe auch viele Sehenswürdigkeiten, Parks gesehen und mich widerspruchslos in dieser wunderschönen Stadt verliebt. Was mir auch sehr gefällt: mit meinem Fahrrad durch Leipzig zu fahren. Das bringt so viel Spaß, verbessert meine Laune und macht mich echt glücklich. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich mich hier zu Hause fühle.

 

Ahoi: Kann man Dich denn auch in unserer Hemisphäre mal Live singend erleben?

Sonya: Natürlich, wie gesagt, wegen Corona war alles wirklich problematisch letztes Jahr. Wir hoffen alle auf die Verbesserung der Situation. Was ich aber jetzt schon sagen kann, es ist schon viel geplant bei mir. Viele neue Projekte und Kooperationen mit anderen Musikern. Die aktuellen Nachrichten erscheinen auf meinen Facebook und Instagram Seiten.

 

Ahoi: Ich weiß, dass Du ganz besonders auch mit Johann Sebastian Bach und seiner Geschichte verbunden bist. Wie denn konkret?

Sonya: Wenn ich den Namen Johann Sebastian Bach höre, erinnere ich mich sofort an meine Musikschule und meine Klavierunterrichte, wo ich unter den schwierigen Kompositionen von ihm gelitten habe. (Smile) Aber das sind natürlich nur angenehme Reminiszenzen, die ich mit meiner Kindheit assoziiere. Ich bin mir sicher, dass die Thomaskirche der Platz ist, den jede/jeder Musiker*in einmal im Leben besuchen sollte. Das ist ein großes Sakrament der Kultur und der musikalischen Tradition überall auf der Welt. Und das ist ein unglaubliches Gefühl, jeden Morgen mit dem Fahrrad an dieser Kirche vorbeizufahren und zu erkennen, dass so ein Mensch hier gearbeitet hat.

 

Ahoi: Danke, liebe Sonya, dass ich Dich interviewen durfte. Und natürlich alle Erfolge Dir, die Du Dir wünschst.


Sonya: Danke, lieber Volly für die Einladung und die interessanten Fragen und Themen, die ihr beleuchtet. Das hat wirklich viel Spaß gemacht.

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