Die leisen Geschichten machen ein Leben aus, eine Umarmung, Liebe, Tränen und Mitmenschlichkeit. Der Leipziger Autor Michael Oertel engagiert sich mit und für Menschen. Weil es ihn umtreibt und weil er weiß, dass er gebraucht wird. Ahoi-Redakteur Volly Tanner sprach mit ihm über langzeit- und schwersterkrankte Kinder, Liebe und das hiesige Gesundheits- und Wertesystem.
Ahoi: Guten Tag, Michael Oertel. Du bist nicht nur der Vater der Kinderbuch-Figur Helfe-Elfe Magda, sondern auch engagiert, besonders beim mitMENSCHENleben e. V. Für wen engagiert ihr euch?
Michael Oertel: Für Mitmenschen! Ist diese Antwort möglicherweise zu einfach? Also, wir sind für Menschen allen Alters da, haben viele kreative, bildende, friedensstiftende und zusammenführende Projekte in petto, arbeiten mit Kindern, Jugendlichen, Familie, sind mit Menschen mit Behinderungen und Senioren am Start, sind für Flüchtlinge ebenso da, wie für schwerst- und langzeiterkrankte Kinder mit ihren Familien.
Ahoi: Ich weiß, dass du mit der Helfe-Elfe Magda zu schwerst- und langzeiterkrankten Kindern in die Intensivstation gehst. Was machst du denn dort ganz konkret?
Michael Oertel: Du weißt viel … na ja, nichts anderes habe ich erwartet. Seit zehn Jahren besuche ich nun, klar leider mit einer kleinen Unterbrechung in den letzten Jahren, Kinder auf der Intensivstation in der Uniklinik an ihren Betten. Dabei habe ich meine Kinderbücher, die Musik, die Geräusche zu den Texten, und ganz wichtig: die Handpuppen. Mit eben denen setze ich die Maxime Paracelus‘ um: „Liebe ist die beste Medizin!“ Genau: ich bringe Liebe an die Betten, eine Portion zusätzliche Liebe, lese den Kindern vor, spiele mit den Handpuppen, die tanzen auch mit Kuscheltieren oder den kleinen Patienten, ich hören oder fühle Sorgen, leite die weiter, komme mit Eltern und Personal ins Gespräch und hinterlasse immer ein Geschenk an dem Bett, damit die Erinnerung an die Liebe greifbar bleibt. Und immer wieder passieren wunderbare Dinge bei meinen und durch meine Besuche.
Ahoi: In unserer einerseits vom Selbst-Optimierungs-Wahn gestressten und politisch Diversität schreienden Welt fallen sehr viele Menschen durch Raster: ältere Menschen, Menschen in finanziell schwierigen Situationen, aber eben auch schwerst- und langzeiterkrankte Kinder. Auch hier braucht es ehrenamtliches Engagement, weil Steuergelder, die Hauptamtliche entlohnen würden, eher in Prestigeobjekte und Dauerplanungen fließen. Wie kann geholfen werden?
Michael Oertel: Wie kann man eine so gewichtige Frage auch nur ansatzweise gut beantworten, frage ich mich gerade. Den Menschen kann nur noch geholfen werden, wenn sie sich denn helfen lassen wollen. Wenn sie jeden Trend mitmachen, jedes Prestigeobjekt feiern, wenn sie glauben, dass Zeit Geld ist – übrigens ein uralter Spruch aus dem 18. Jahrhundert – dann wird es schwierig, dann bleibt es beim schneller, höher, weiter. Wir entfernen uns immer schneller und immer weiter voneinander, auch von uns selbst. Immer höher hinaus, und wer am höchsten ist, der kann auch am tiefsten fallen. Digitalisierung hilft der Optimierung. Stichwort „e-Akten“. Und dennoch wird die Papierakte geführt. Das Leben franst mehr und mehr aus, spielt nur noch im Außen. Wir brauchen wieder Bewusstsein für uns, Bewusstsein für unseren Nächsten, und das kommt nicht von außen, sondern kann nur von innen kommen. Wenn ich als Sterbebegleiter oder Vorleser für schwerstkranke Kinder agiere, dann höre ich da an den Betten Geschichten, die sich ein jeder zu Lebzeiten fett hinter die Ohren schreiben sollte; von mir aus auch ins Smartphone.
Vielleicht noch ein Gedanke. Gerade sprach ich mit einer Geschäftsfrau, die ihr Geschäft aufgeben wird, auch weil sie für sich entschieden hat, jetzt mehr auf ihr Herz zu hören, ihm zu folgen, anstelle das Leben am Kontenstand auszurichten.
Ahoi: Was hat es denn mit Helfe-Elfe Magdas Kräuterlehrpfad auf sich?
Michael Oertel: Den wollten wir als Verein eigentlich schaffen, schaffen das vielleicht auch noch. Leider fehlt es in unserer Stadt an Flächen, die man auf diese Weise nutzen kann. Es scheint fast so, als wäre der monetäre Ertrag für die Eigentümer der Grundstücke nicht hoch genug. So ein Natur- und Bildungsprojekt hat eben nicht das Format einer Stadtvilla.
Mit dem Projekt wollen wir Kindern die Möglichkeit geben ihre Umgebung, die Natur zu erforschen, kennenzulernen, begreifen zu können, um sie letztlich schätzen zu lernen und nutzen zu können. Kinder können lernen, dass es kein Unkraut gibt, dass jedes Kraut seinen Sinn und seinen Nutzen hat.
Jetzt ist der Kräuterlehrpfad ein tolles Schulprojekt, was Grundschulen und Horte buchen können. Wir haben die Kräuter in ein Lehrbuch und auf Arbeitsblätter gebracht, die können dann an allerlei Orten zum Einsatz kommen, ob in der Schule, im Clara-Park oder im Auwald. Darüber hinaus gibt es einen prallgefüllten Koffer mit eigens für dieses Projekt gefertigtem Lehrmaterial. So haben wir wohl den ersten mobilen Kräuterlehrpfad geschaffen.
Ahoi: Wie könnt ihr in eurer Arbeit von anderen Menschen unterstützt werden?
Michael Oertel: Da geht viel. Man kann Zeit, Sachen und Geld spenden. Man kann Kontakte knüpfen und zur Verfügung stellen. Man kann Infomaterial verteilen oder auslegen. Man kann in seinem Laden eine Spendendose von uns aufstellen. Man kann Spendenaktionen, vielleicht zu Firmen- und Familienfeiern initiieren. Der Fantasie sind nahezu keine Grenzen gesetzt … der Umsetzung auch nicht!
Ahoi: Das Problem Gesundheitssystem ist komplex und auch nur Teil eines viel größeren Versagens des westlichen Wertesystems. Gibt es deinerseits Ideen, wie politisch umgesteuert werden könnte. Bei Thema Gesundheit ist da ja ein Sozialdemokrat namens Lauterbach in Zugzwang und als Minister ja eigentlich Diener des Volkes. Du kannst gerne konkret werden.
Michael Oertel: Das „westliche Wertesystem“. Was gibt das System vor, welche Werte es hat? Welche Werte hat das System aber tatsächlich bzw. welchen folgt es? Gibt es hier eine Differenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung? Darf oder muss man besonders in Leipzig fragen, ob die Sozialdemokratie 2023 noch mit den Grundsätzen ihrer Gründungsväter kompatibel ist? Wenn „ja“, zu wieviel Prozent? Karl Lauterbach war noch vor einem Jahr Deutschlands beliebtester Politiker. Las man. Heute liegt er immerhin noch auf Platz 14. Er ist lange Zeit Vorstandsvorsitzender der Rhön-Klinikum AG gewesen. Eines von vielen Unternehmen im deutschen Gesundheitssystem, ein Unternehmen, welches sich auf dem Gesundheitsmarkt bewegt, welches einen Geschäftsbericht herausgibt, in dem in der Präambel steht, dass das Auszahlen einer ordentlichen Dividende oberstes Ziel ist. Darauf darf sich dann jeder selbst einen, oder gern auch seinen Reim machen. Mir scheint es nur logisch und konsequent, wenn ich in einer Talkshow (vor vielen Jahren) Karl Lauterbach sagen höre: „Der HIV-Patient ist ein unglaublich lukrativer Kunde.“ Und da schließt sich fast der Kreis. August Bebel, vielleicht kennt ihn der eine oder andere Sozialdemokrat noch, sprach einstmals ernst und gelassen aus: „Die Menschlichkeit hat keinen Kurs an der Börse!“
Wenn ich erlebe, wie in Krankenhäusern gearbeitet wird, dann sehe ich ganz schnell, dass es an Menschlichkeit fehlt, was z. B. auch bei der Wertschätzung für die Arbeit der Krankenschwestern und Pfleger beginnt. „Keine Zeit für Patienten!“ beklagen die, und dazu ist eine alarmierende Studie zu lesen. Wer offene Ohren, offene Augen und ein offenes Herz, nicht im medizinischen Sinne, hat, der weiß, wie politisch umgesteuert werden kann. Bleibt nur die Antwort für die Frage offen, ob mit der Politik des „westlichen Wertesystems“ eine solche Änderung erfolgen kann. Eine Änderung kann nur dann erfolgen, und sie wird auch nur dann erfolgen, wenn die Menschen bei sich sind, wenn Gemeinschaft besteht und gelebt wird. Hier lohnt, aus meiner Sicht ein Blick über den Tellerrand, selbst den von der Mokkatasse.
Immer und immer wieder fühle ich mich an POSSENSPIELS „Märchenland“ erinnert.
Liebe ist die beste Medizin! Handle damit mal an der Börse …
Ahoi: Bei schwerst- und langzeiterkrankten Kindern leiden auch die Bezugspersonen, die Eltern und Großeltern, Geschwister und Freunde. Wird denen irgendwie geholfen?
Michael Oertel: Es gibt in den Krankenhäusern oft Sozialarbeiter, Seelsorger, vielfach aber müssen die Betroffenen den Weg dorthin selber finden. Das stellt nach meinen Erfahrungen schon oft eine hohe Hürde dar. Die Angehörigen sind oft „gefangen“ in ihrem Schmerz, in ihrer Angst, in ihrem Leid. Und die Helfer sind, um es vorsichtig auszudrücken, gut ausgelastet. Wenn schon, mag ich den Gedanken von gerade aufgreifen, dass keine Zeit für die Patienten da ist, wo soll sie dann für die Angehörigen herkommen? Wenn ich im Krankenhaus an den Betten der Kinder Angehörige antreffe, dann versuche ich, auch denen bestmöglich zu helfen, was damit beginnt, sie für einen Moment zu entlasten.
Meine Erlebnisse, meine Begegnungen, meine Erfahrungen haben mich ein Konzept entwickeln lassen, welches eben genau für diese Menschen Umsetzung finden soll. Dafür brauchen wir nur noch ein bisschen Geld, ein Gebäude und ein Grundstück; Liebe natürlich auch. Die aber ist schon durch alle Mitstreiter vorhanden, was nicht heißt, dass das Ende der Fahnenstange schon erreicht ist.
Ahoi: Danke, lieber Michael für dein Engagement. Danke, dass du weitermachst.