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  • Interviews
Menschen befähigen, Quellen zu lesen und zu interpretieren

Gespräch mit dem Direktor des Leipziger Stadtarchivs, Dr. Michael Ruprecht

Bilderfluten, Nachrichtentsunamis, Meinungskorridore, Expertenaussagen, Informationskrieger. Sich in der heutigen Welt zurechtzufinden, ist schwierig. Schließlich wollen von allen Seiten Aktive irgendwie irgendwas durchdrücken und nutzen dafür alle Möglichkeiten. Da ist es gut, hin und wieder in der Zeit zurückzureisen und echte Quellen zu nutzen, um zu hinterfragen warum was wie und gerade nicht anders ist und gesagt wird. Das Leipziger Stadtarchiv arbeitet an der Selbstermächtigung der mündigen Bürger, ein fast schon aus der Zeit gefallener Begriff – dieses „mündig“. Ahoi-Redakteur Volly Tanner sprach mit dem Direktor:

Dr. Ruprecht in den Räumen des Leipziger Stadtarchivs © Markus Scholz

Ahoi: Guten Tag, Herr Dr. Michael Ruprecht. Sie sind der Direktor des Stadtarchivs Leipzig und haben gerade einen Fördermittelbescheid über 240.000 Euro bekommen. Wer hat denn so viel Geld, um es ins Stadtarchiv Leipzig zu stecken?

Ruprecht: (Lacht.) Genauer gesagt sind es zwei Fördermittelbescheide, die hinter dieser Summe stecken. Bei dem Geld handelt es sich um Bundesmittel aus dem Förderprogramm WissensWandel, das Archive und Bibliotheken bei der Entwicklung und beim Ausbau digitaler Angebote unterstützen soll. Auf den Weg gebracht hat das Förderprogramm die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Jahr 2020. Viele Bibliotheken und Archive mussten ja 2020 wegen der Corona-Pandemie ihre Pforten schließen und waren nicht mehr zugänglich. Die Initiative zum Ausbau digitaler Angebote – die übrigens über den Deutschen Bibliotheksverband gesteuert wird – ermöglichte diesen Orten des Wissens die Schaffung und den Ausbau von nachhaltigen digitalen Angeboten. Im laufenden Erneuerungsprozess des Stadtarchivs kam diese Gelegenheit genau zur rechten Zeit. 

 

Ahoi: Und was werden Sie damit machen?

Ruprecht: Es gab verschiedene Förderschwerpunkt, darunter die Digitalisierung und Aufbereitung von Archivalien und die Schaffung neuer, digitaler Angebote für die Historische Bildungsarbeit: Ganz konkret werden wir zum einen eine 100 Jahre umfassende Serie von Protokollen der Stadtverordnetensitzungen (heute Stadtrat) digitalisieren und inhaltlich erfassen. Zum anderen werden wir mit dem Projekt „Das Lebende Buch®“ ein attraktives Angebot für Schülerinnen und Schüler sowie alle am Archiv Interessierten schaffen. 

 

Ahoi: Können Sie uns etwas zu dem Projekt „Das Lebende Buch“ erzählen?

Ruprecht: Eigentlich erwacht der gedruckte Inhalt von Büchern durch unsere Fantasie zum Leben, sei es nun Belletristik oder Fachliteratur. Doch nicht jedes Thema ist niedrigschwellig vermittelbar. Das Lebende Buch wird gleichzeitig Leipziger Stadtgeschichte und Archivarbeit lebendig werden lassen: genau das ist unser Ansatz. Gelingen soll das durch die Verbindung von digitaler und analoger Information. Das klassische Buch, das mit den Händen tastbar und erfahrbar ist, erwacht mit Hilfe von Projektionen und eingespieltem Sound zum Leben.

Wir möchten von dem Vorurteil wegkommen, dass Archive verstaubte, dunkle oder langweilige Orte sind und stattdessen zeigen, wie spannend und lebendig die Arbeit mit Quellen sein kann und wie wichtig das Erhalten und Auswerten von Informationen aus der Vergangenheit ist. Ohne die Quellen in Archiven hätten unzählige Bücher nicht geschrieben werden können, wir wüssten nichts über unsere Stadt, unser Viertel oder unsere gemeinsame Identität. Ohne Archive hätte auch viel Unrecht nicht aufgeklärt werden können und wären viele falsche und richtige Behauptungen nicht nachprüfbar. Junge Menschen müssen sich heute verstärkt mit digitalen Themen auseinandersetzen. Es ist deshalb so wichtig zu zeigen, dass nicht alles, was ich im Netz finde, auf Fakten basiert. Was wir fördern wollen, ist selbstbewusstes und eigenständiges, forschendes Lernen. Das Lebende Buch® ist hierfür der ideale Einstieg.

 

Ahoi: Sie sagen in der Pressemitteilung, dass wir uns „… am Anfang des digitalen Zeitalters befinden.“ Nun wollen Sie analoge und digitale Angebote vereinen und zugänglich machen. Wie? Und wer sind eigentlich Ihre Adressaten?

Ruprecht: Beide Zugänge sind wichtig. Denn eine digitalisierte Quelle kann das Original niemals ersetzen. Gleichzeitig kann ich aber das Original nicht weltweit und zu jeder Zeit verfügbar machen. Das Lebende Buch® wird spielerisch mit Digitalisaten arbeiten und so auf den „Erstkontakt“ mit den Originalquellen vorbereiten.

Beide bewilligten Projekte richten sich zunächst einmal an ganz unterschiedliche Zielgruppen. Aber ganz allgemein lässt sich sagen: Unsere Adressaten sind die Leipzigerinnen und Leipziger, denn nur, wenn wir alle uns mit unserer vielschichtigen Vergangenheit beschäftigen, wenn wir fähig sind, Fakten eigenständig zu prüfen und Quellen selbstständig auszuwerten, können wir komplexe Sachverhalte durchdringen und verstehen und schließlich unsere Zukunft als Gesellschaft aktiv mitgestalten.

 

Ahoi: Beim zweiten Projekt – der Digitalisierung der Protokolle der Stadtverordnetenversammlung zwischen 1830 und 1930 – steht ein extremer Arbeitsaufwand an. Wie muss ich mir die Bewältigung vorstellen? Das machen ja bestimmt keine Schülerpraktikanten. Das braucht ja Feingefühl und Wissen um die Objekte der Lust.

Ruprecht: (Lacht.) Ja, in der Tat müssen da die Profis ran, sowohl beim Digitalisieren als auch beim sogenannten Erschließen. Zunächst werden die 154 Akten aus der Zeit zwischen 1831 und 1935 restauriert und digitalisiert – diese Schritte sind abgeschlossen. Gerade befinden wir uns in der Phase der Erschließung, also der Erfassung der Inhalte. Sie müssen sich vorstellen, dass jede Akte viele hundert Blätter umfasst und noch viel mehr Tagesordnungspunkte enthält, die durch die Stadtverordneten verhandelt und beschlossen wurde. Hier sind für Leipzig wegweisende und bis heute nachwirkende Entscheidungen dokumentiert, wie z. B. der Bau von Schleusen oder Straßen. Bislang ist das Suchen einzelner Sachverhalte nicht möglich oder entspricht dem Gleichnis der Nadel im Heuhaufen. Bald aber werden die Tagesordnungspunkte aller Sitzungen aufgenommen sein und können anhand der Digitalisate von jedem Ort der Welt gelesen werden.

 

Ahoi: Wie können Leipzigerinnen, Leipziger und andere Menschen Ihr Angebot im Stadtarchiv nutzen? Und wofür?

Ruprecht: Da fragen Sie etwas! Menschen führen die unterschiedlichsten Anliegen zu uns: Forschungsthemen vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit, vom Werden der Stadt Leipzig, Krieg und Frieden, bis zu den spannenden Jahren rund um die Friedliche Revolution, Projekte Leipziger Institutionen und Initiativen, Schüler- und Seminararbeiten, Familien- oder Stadtteilforschung, aber auch ganz praktische Anliegen wie Geburts- oder Sterbeurkunden, die berühmte Geburtstagszeitung und Anfragen der Leipziger Stadtverwaltung, deren Unterlagen wir bei uns archivieren. 

Die Nutzung des Forschungssaals ist nach Anmeldung kostenfrei. Wir haben im vergangenen Herbst aber auch eine neue Archivsoftware eingeführt, mit der sich unsere Bestände in Zukunft online durchsuchen lassen – ich sage in Zukunft, weil der Umzug der Daten aus dem alten System zwar begonnen hat, aber noch nicht abgeschlossen ist. Dass das angesichts der ca. 13 km Archivgut etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt, ist nicht ungewöhnlich. Es lohnt sich aber auf jeden Fall, schon jetzt mal auf www.recherche-stadtarchiv.leipzig.de vorbeizuschauen.

Jüngst haben wir beispielsweise Unterlagen, Karten und Pläne zur Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung (STIGA) ins Netz gebracht, die nun von zahlreichen Initiativen und Projekten im Rahmen des STIGA-Jubiläums genutzt werden können.

 

Ahoi: Schlussendlich geht es um Teilhabe an Faktenmaterial und damit an Wissen. Wie versuchen Sie die möglichst gesamte milieuübergreifende Bevölkerung zu erreichen?

Ruprecht: Richtig, genau darum geht es. Aufgabe von demokratischen Gedächtnisinstitutionen, wie dem Stadtarchiv, ist es, frei verfügbare Informationen auch für alle frei zugänglich zur Verfügung zu stellen, eine Verknüpfung zur eigenen Lebenswelt zu schaffen, Barrieren abzubauen und Berührungsängste mit den Originalquellen zu nehmen – Menschen sollen nicht nur Lust auf die Quellen zur Geschichte ihrer Stadt bekommen, sondern wir wollen sie auch befähigen, diese Quellen zu lesen und zu interpretieren. 

Wir versuchen, vielfältige und abwechslungsreiche Zugänge zur Geschichte unserer Stadt zu ermöglichen. Neben den klassischen Formaten wie Vorträgen und Publikationen wird in Zukunft „Das Lebende Buch®“ stehen. Wir nutzen aktuell Facebook, das Medium Film, bieten digitale und analoge Ausstellungen und Führungen. Wir wagen uns aber auch mal an szenische Lesungen oder Theaterprojekte. Geschichte ist so viel mehr, als ein Geschichtsbuch zu lesen, eine Ausstellung zu besuchen oder einen Dokumentarfilm zu schauen. Das Archiv ist ein Ort für alle! So steht es übrigens auch im Sächsischen Archivgesetz.

 

Ahoi: Danke für Ihre Zeit und Ihre Antworten, lieber Dr. Ruprecht.

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