//
//
  • Interviews
Interview: Dokumentarfilmer Roger Liesaus

Geschichte im Fokus

Roger Liesaus mit der ERLA-DVD © Heike Liesaus

Geschichte ist mehr als Parolen an der Wand. Roger Liesaus bewahrt Geschichte auf – auch und ganz besonders unbequeme Geschichte. Und er füllt diese in Filme. Dabei schaut er hinter die Kulissen und spricht mit den Menschen, die die Geschichte noch erlebten. Ein wichtiges Steinchen im Wahrheits-Puzzle. Ahoi-Redakteur Volly Tanner sprach mit ihm.
 
 

Ahoi: Guten Tag, Roger. Schön, dass wir endlich mal zusammenfinden für ein Interview. Du bist geschichtlich interessierten Menschen bekannt als Dokumentarfilmer. Dabei ist, so kann man sagen, die Geschichte großer Werke in Leipzig und ihre Verquickungen in die Rüstungsindustrie des Dritten Reiches dein Hauptaugenmerk, sehe ich das richtig?

Das könnte ich jetzt einfach mit „Ja“ beantworten, aber ich möchte da gern etwas weiter ausholen.
Sehr viele meiner Zeitzeugen berichten mir, dass sie selbst oder ihre Eltern 1935 fünf oder sechs Jahre Arbeitslosigkeit hinter sich hatten. Dann wurden große Bauprogramme aufgelegt, aber vor allem wurden auch moderne Maschinenbaufirmen errichtet, mit erstaunlichen sozialen Leistungen, z. B. mit großzügigen Speisesälen, Schwimmbecken und hervorragend ausgestatteten Lehrwerkstätten. Das hat die Menschen aus nah und fern, für die Luftrüstungsindustrie sind speziell das Rheinland und das Erzgebirge gemeint, angezogen und nach Leipzig bzw. Taucha kommen lassen. Dass es sich dabei um Firmen der Rüstungsindustrie handelte, war für die meisten Arbeiter und Angestellten zweitrangig. Hauptsache, wieder Geld verdienen und die Familie satt bekommen.

Und noch etwas ist wichtig: Es betraf nicht nur die großen Werke. Mit Fortschreiten des Krieges waren fast alle Firmen irgendwie in die Rüstungsproduktion involviert, auch die Kleineren. Der Klavierbauer Hupfeld baute Lastensegler, die Firmen Fritz Schulze und Heise in Böhlitz-Ehrenberg lieferten für Junkers Teile, die Firma Horn stellte Messgeräte für Flugzeuge und U-Boote her, die Firma Hammer lieferte den Erla-Werken zu und so weiter. Es ist also ein weites Feld.

Ahoi: Wie begann das denn eigentlich?

Der Weg dahin hat viele Wurzeln, da muss ich tief graben.

Wurzel 1 – Als Kind brachte mein Vater mich jeden Abend ins Bett, dabei kam es hin und wieder vor, dass er mir von früher erzählte – von seiner Kindheit in Schlesien, von der Flucht, von der Vertreibung, vom Neuanfang nach dem Krieg im Spreewald und später in Taucha.

Wurzel 2 – In der dritten Klasse wurde von unserer Klassenlehrerin Reingart Porst ein Chronist zum Führen der Klassenchronik gesucht. Ich lehnte mich zurück: Da kann ich nicht gemeint sein. Am Ende war ich es doch und gemeinsam mit meiner Mutter begann ich die Chronik zu erarbeiten, die ich heute noch führe.

Wurzel 3 – Bei Geburtstagsfeiern meiner Verwandtschaft in Taucha unterhielten sich die Alten über Mimo, Erla, Hasag, wer wann dort gearbeitet hat und anderes. Für mich war das irgendwie alles eins, dass es sich um drei ganz verschiedene Werke handelte, habe ich erst viel später realisiert.

Wurzel 4 – Als Lehrling gehörte ich in Böhlitz-Ehrenberg dem Jugendfilmklub unter dem Leipziger Kinoenthusiasten Detlef Grahl an und wurde als Teilnehmer zum Nationalen Dokumentarfilmfestival nach Neubrandenburg delegiert. Dort beeindruckte mich besonders das Gespräch mit Gitta Nickel.

Wurzel 5 – Sechs Jahre Studentenkabarett „Die Reizzwicken“ an der TH Zwickau unter Leitung des Schauspielers Michael Kleinert hat auf jeden Fall meinen Blick für Theater und Film geschult.

Wurzel 6 – Der Leipziger Schriftsteller Norbert Marohn hat auch seinen Teil dazu beigetragen. Bei der Recherche zu einigen seiner Bücher konnte ich ihn unterstützen und von ihm lernen, alles zu hinterfragen und nichts einfach als gegeben hinzunehmen. Das ist für eine möglichst objektive Darstellung der Geschichte unabdingbar. Aber auch für mich gilt beim Umgang mit Geschichte Goethes Spruch: Stellst du eine Sache ins Licht, stellst du eine andere in den Schatten.

Wurzel 7 – Aus diesen Recherchen resultierten mein Interesse für Industriekultur und die ersten eignen Nachforschungen zu Firmen, in denen ich gearbeitet habe und die spätere Zusammenarbeit mit dem Verein für Industriekultur Leipzig unter Moritz Jähnig.

Wurzel 8 – Den entscheidenden Dreh in Richtung Dokumentarfilm habe ich dann durch die Zusammenarbeit mit Enno Seifried am letzten Teil von „Geschichten hinter vergessenen Mauern“ und den beiden Filmen „INDUSTRIEkultuer LE“ erhalten.


Ahoi: In deinen Filmen über die Mitteldeutschen Motorenwerke (Mimo), die ERLA-Werke und die HASAG kommen auch Zeitzeugen und Betroffene zu Wort. Wie kommst du an diese heran? Meine Erfahrung für Interviews ist ja, dass viele Menschen verstummen.

Auch da gibt es wieder unterschiedliche Wege. Der Wichtigste sind Tipps und Hinweise von anderen Historikern oder Bekannten. Da hat man dann auch gleich einen Einstieg im Gespräch mit den Zeitzeugen.

Zwischenzeitlich melden sich auch viele spätere Interviewpartner per Telefon, meist mit dem einleitenden Satz: Naja, ich habe ja nicht viel zu erzählen. Nachdem ich ihnen erklärt habe, dass jedes Puzzlesteinchen zählt, wird es meist ein interessantes Interview.

Aber ich habe auch ganz viele alte Menschen, denen vielleicht gerade zu ihrem 95. Geburtstag in der Zeitung gratuliert wurde, einfach mal angerufen. Da kam es dann vor, dass mich ein Ehepaar aus Plagwitz eine Woche nach der Terminverabredung mit den Worten empfing: „Wir haben letzte Woche nach Ihrem Anruf gleich die Polizei informiert, eine halbe Stunde später waren die mit einem ausgedruckten Bild von Ihnen da und haben gesagt: Wenn es der ist, können Sie ihn reinlassen, das ist ein Dokumentarfilmer.“

Jährlich wird mit mehr oder weniger propagandistischen Aufwand der 17. Juni begangen. Sicher wird zurecht an diesen Aufstand  in der DDR des Jahres 1953 erinnert. Warum wird nicht an die Stuttgarter Vorfälle 1948 in der Bizone erinnert, als aus sehr ähnlichen Gründen 9,25 Millionen Menschen streikten und das US-Militär in Stuttgart auffuhr? Roger Liesaus 

Ahoi: Ohne das Wissen und das Interesse an der Vergangenheit ist heutige Geschichte nicht erklärbar. Dietrich Bonhoeffer sagte einst: „Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung.“ Wieviel kannst du mit deinen Filmen beitragen?

Ich finde Georg Orwell drückt das Ganze in folgendem Zitat etwas deutlicher aus: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“

Klingt erstmal kompliziert, aber im täglichen Leben finden sich immer wieder Beispiele dafür. Viele von uns können sich noch daran erinnern, wie in den neunziger Jahren die DDR nur auf Stasi und Doping reduziert wurde. Eine Darstellung, die oftmals der eignen Wahrnehmung entgegenstand. Was ist eigentlich mit der Geheimdienstarbeit und dem Doping in der Bundesrepublik?

Jährlich wird mit mehr oder weniger propagandistischen Aufwand der 17. Juni begangen. Sicher wird zurecht an diesen Aufstand mit 400.000 bis 1,5 Millionen Teilnehmern (die Zahlen schwanken) in der DDR des Jahres 1953 erinnert, auch in Hinblick auf die Toten. Gleichzeitig frage ich mich, warum wird nicht an die Stuttgarter Vorfälle 1948 in der Bizone erinnert, als aus sehr ähnlichen Gründen 9,25 Millionen Menschen streikten und das US-Militär in Stuttgart auffuhr?

Ich will den 17. Juni nicht kleinreden, aber ich würde mir schon wünschen, dass eine Gleichbehandlung stattfindet oder sogar die Frage gestellt wird, ob und in welchem Zusammenhang die Ereignisse standen. Aber auch hier trifft nun wieder der Satz zu: „Geschichtsschreibung ist immer die Geschichte der Sieger“.


Abschließend ein Beispiel, was auch meine Filme tangiert: Vor anderthalb Jahren gab es eine Veranstaltung auf dem Flughafen Leipzig/Halle, weil die Firma DRA 80 Millionen Euro in ein neues Werk für die Produktion der Dornier 328 investieren will. Die LVZ titelte: „Nach 60 Jahren wird Sachsen wieder Standort für den Flugzeugbau“. Genau wie die Redner bei der Veranstaltung und selbst ein Redner der IHK beim Eröffnungstag der Industriekultur im gleichen Jahr haben sie die ehemalige Flugzeugindustrie in Leipzig unterschlagen. Zwar wurden für die Baade 152 Teile in Schkeuditz gefertigt, aber hauptsächlich wurde sie in Dresden gebaut.

Es hätte also auch heißen können oder vielleicht müssen: „75 Jahre, nachdem 25.000 Flugzeuge in Leipzig hergestellt wurden, soll hier wieder ein Standort für den Flugzeugbau entstehen“. Und auch dabei ist der Flugzeugbau in Leipzig zwischen 1910 und 1920 nicht berücksichtigt.

Zur Bewertung von geschichtlichen Ereignissen und der Gegenwart, sind zwei Ansätze immer hilfreich, in dem man die Frage stellt wird „Wem nützt es?“ und „Folge der Spur des Geldes.“


Ahoi: Du bist auch der Mann hinter Rog-Film. Und – wenn ich das richtig verstanden habe – gibt es dahinter eine Filmgruppe. Kannst du uns bitte erklären, was das ist?

Unter ROG-Film habe ich mich selbstständig gemacht. Es war auch notwendig, ein Logo und eine Internetseite zu haben. Übers Jahr mache ich das meiste alleine, nur bei bestimmten Anlässen hole ich mir Leute aus der Filmgruppe dazu.

Am meisten unterstützt mich Frank Zalich. Frank kenne ich seit der ersten Klasse. In der Lehrzeit wollte ich, obwohl selbst völlig unmusikalisch, eine Band gründen und habe mich da als Organisator gesehen. Frank war als Bassist meine erste Wahl. Außer ein paar Proben und einem Orientierungsgespräch mit Werner Godemann war es mit „Reaktor“ bald wieder vorbei. Aber nun macht Frank die Musik für die Filme, führt bei Außenaufnahmen auch oft die Kamera und bastelt kleine Animationen.

Meine Frau Heike unterstützt mich ständig bei Fotos, Texten, Versorgung der Gruppe und mit reichlich Kritik. Ich freue mich zwar, wenn meine Interviewpartner sächsisch sprechen, aber ich bin froh, für das Vortragen der Sprechtexte den Theaterregisseur Tilo Esche gewonnen zu haben.

Von Vornherein war es mein Gedanke, auch Texte aus Akten und Büchern „sichtbar“ bzw. hörbar zu machen. Als Kontrast zum Sprecher sollte dies eine Vorleserin tun. Im ersten Film war das Julia Altmann und seitdem zweiten ist es Annabell Paulitz. Auch mein Sohn Jonas unterstützt mich, hauptsächlich wenn ich mal wieder mit der Technik auf Kriegsfuß stehe.

Darüber hinaus gibt es in den Filmen immer wieder Szenen mit Fahrzeugen aus der Zeit. Diese wären nicht möglich ohne die „Esser Freunde Taucha“ und andere Oldtimerbesitzer, die ihre Schätze mit viel Enthusiasmus für derartige Drehtage bereitstellen. Genauso würde es ohne Piloten, wie Frank Zemla, Ronny Schäfer oder Thomas Kabelitz nicht gehen, die mich selbstlos zu den entsprechenden Objekten geflogen haben. An der Stelle muss ich es aber auf alle Zuarbeiter von Dokumenten, Texten, Akten, Fotos und Filmen erweitern, deren Anteil am Gelingen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Ahoi: Der Nationalsozialismus wird heute nach meinem Gefühl viel zu oft auch medial auf das „Monster Hitler“ fokussiert dargestellt, auch im Antifaschismus der derzeitigen Prägung zählen Slogans und Emotionen oft mehr als Fakten und Argumente. Wird deine Arbeit, die ja doch sehr viel zum Geschichtsverständnis beitragen kann, gewürdigt von den Stadteliten? Auf Demonstrationen lassen diese sich ja gerne sehen.

Die Einleitung zu deiner Frage drückt bereits Vieles aus, was auch meine Sicht der Dinge ist. Bei dem Schlagwort „Monster Hitler“ fallen einem zwangsläufig die Guido Knopp-Filme ein. Die stattfindende Fokussierung auf Hitler und die NS-Führung einerseits und die Opfer des Nationalsozialismus andererseits verschleiert meines Erachtens den Blick auf die wahren Zusammenhänge, die zu den Weltkriegen, den Toten und den Machtverhältnissen nach dem Krieg führten. Von den Gedenkarbeitern wurde mir auch bereits vorgeworfen, dass ich unter dem Vorwand der Industriegeschichte den Nationalsozialismus schönrede. Dieses Stigmatisieren, Diffamieren und in die rechte Ecke stellen, bei abweichender Meinung, ist heutzutage Gang und Gäbe, da reicht es schon, wenn man sich für die deutsche Sprache weitestgehend ohne Verwendung von Gendern, Anglizismen und Smileys einsetzt.

In Leipzig werden die Filme überhaupt nicht ästimiert. Allerdings könnte ich mir auch nicht vorstellen, zum Beispiel mit Herrn Jung über Geschichte zu diskutieren, der sich anmaßt, über das Aufhängen der Bilder seiner Amtsvorgänger in die Ahnengalerie unter dem Deckmantel der demokratischen Einstellung entscheiden zu lassen. Ganz ehrlich, ich mach das auch nicht für Ruhm und Ehre, ich möchte das einfach archivieren und interessierten Mitmenschen zur Verfügung stellen. Insofern sehe ich es tatsächlich als Vorteil, mich nicht ständig erklären zu müssen.

In Taucha hat der Bürgermeister Tobias Meier in der Grundschule die Premiere des ersten Films ermöglicht. Es war eine tolle Veranstaltung, die der Bedeutung des Themas für die Stadt durchaus gerecht wurde. Die nächsten beiden Filme betrafen Taucha nicht in dem gleichen Maße wie die Mimo und fanden entsprechend weniger Beachtung, aber vielleicht auch etwas zu wenig, wenn man bedenkt, dass Edmund Heckler, der spätere Gründer von „Heckler und Koch“, in Taucha Direktor des Hasag-Zweigwerkes war und eine 106-jährige Zeitzeugin im Film darüber berichtet.


Ahoi: Deine Recherchen sind extrem zeitaufwendig, deine Arbeit am Film ebenfalls, du kommst nicht mit einem riesigen Team zu den Menschen, sondern als du selber. Wie finanzierst du deine Filme eigentlich?

Ja da hast du Recht, es braucht einfach viel Zeit. Es muss sich entwickeln. Ich komme zu den Interviewpartnern immer allein, da kann man sich auch besser auf Augenhöhe unterhalten.

Ich finanziere die Filme über Leidenschaft und der Einsicht, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Nachdem meine Außendiensttätigkeit im Maschinenbau von der technischen Beratung zur Drückerkolonne mutiert war, ich daran auch gesundheitlich litt, musste ich noch einmal etwas anderes versuchen. Einnahmen erziele ich durch den Verkauf der DVDs, der Kalender und der Werkspläne. Zwar kann ich davon gerade mal die Unkosten und die Krankenkasse bezahlen, aber der systemerhaltende Konsument war ich auch vorher nicht. Ich komme hin.


Ahoi: Und wie kommt man an deine Filme heran?

Sie sind über die Internetseite www.ROG-Film.de zu erwerben. Da sich aber auch viele ältere Menschen dafür interessieren, die nicht die Möglichkeit und das Vertrauen ins Internet besitzen, können diese mich gern anrufen (034298 13035), um die Filme zu bestellen. Natürlich kann das auch jeder tun, der ein Dokument, einen Zeitzeugenbericht, Film oder Fotos beisteuern möchte.


Ahoi: Und woran arbeitest du derzeit?

Der Film in diesem Jahr wird über den Fliegerhorst Brandis/Waldpolenz berichten. Dort sind technisch sehr interessante Flugzeugtypen geflogen und wahrscheinlich als letzter Film zur Luftrüstungsindustrie im Raum Leipzig soll ein Jahr später ATG folgen. Auch die Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft war ein wichtiger Produzent von Junkers- und Heinkelflugzeugen.


Ahoi: Dann hoffen wir auch weiterhin auf Bildmeldungen von dir. Um Wahrheit abzubilden braucht es viele Sichten. Deshalb ist deine Sicht so wichtig, lieber Roger.

Roger Liesaus 
"HASAG – und andere Zulieferfirmen der Luftrüstung"
"ERLA – das Hauptwerk und die Flugplätze"
"MIMO - Geschichte eines Werkes"
Website 

« zurück
zur aktuellen Ausgabe