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  • Interviews
Eric Buchmann im Gespräch über die Hieronymus-Lotter-Gesellschaft

Der oft beschworene Leipziger Bürgergeist

Leipzig verändert sich ständig. Um dabei nicht das schon Geschaffene zu verlieren, engagieren sich die Lotterfreunde. Lotterfreunde? Das sind die Mitglieder der Hieronymus-Lotter-Gesellschaft, benannt nach einem einstigen Leipziger Bürgermeister des 16. Jahrhunderts. Eric Buchmann wurde nun gerade wieder zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt. Grund genug, dass sich Ahoi-Redakteur Volly Tanner mit ihm unterhielt.

Eric Buchmann, Vorsitzender der Hieronymus-Lotter-Gesellschaft © Hieronymus-Lotter-Gesellschaft

Herzlichen Glückwunsch. Du bist gerade im Oktober wieder zum Vorsitzenden der Hieronymus-Lotter-Gesellschaft gewählt, dem Stadtgedächtnis sozusagen. Kannst du Menschen, die hier leben, aber noch nie von der Gesellschaft gehört haben oder sich auch noch nie so wirklich interessiert haben, etwas über die Hieronymus-Lotter-Gesellschaft erzählen?

Ganz lieben Dank für die Glückwünsche. Ich freue mich auch, dass die Mitglieder, die Lotterfreunde, mir wieder ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Die nächsten zwei Jahre im neuen Vorstand werden sicherlich spannend und vielseitig, bei Lotter ist immer was los.

Die Hieronymus-Lotter-Gesellschaft ist zunächst einmal und ganz primär der Förderverein des Stadtgeschichtlichen Museums in Leipzig. Wenn jemandem das Siegel „Stadtgedächtnis“ gebührt, dann dem Museum. Es sammelt, bewahrt und präsentiert, was Leipzig in seiner langen Geschichte geprägt und gezeichnet hat, politisch, kulturell, wirtschaftlich, aber auch ganz alltäglich. Wie ist Leipzig das geworden, was es heute ist? Diese Frage beschäftigt das Museum. Wie in jeder anderen Kultureinrichtung auch, gibt es natürlich auch bei uns im Museum viele Köpfe, viele Ideen, viele Impulse, was man tun kann; die Mittel dagegen sind jedoch begrenzt. Genau da kommen wir von der Lotter-Gesellschaft ins Spiel. Wir unterstützen das Museum bei allen Projekten und Ideen, die vielleicht sonst auf der Strecke bleiben würden, weil das Budget erschöpft ist. Freilich können auch wir nicht immer alles verwirklichen, aber wir leisten einen kleinen Beitrag, das „Stadtgedächtnis“, um bei eurem schönen Ausdruck zu bleiben, zu bewahren und stetig am Leben zu halten.

Darüber hinaus veranstalten wir aber auch das ganze Jahr über eigene Veranstaltungen wie Konzerte, Bildungsfahrten, Führungen, Lesungen und nicht zu vergessen unsere mittlerweile „weltberühmte“ Lotterbude auf dem Weihnachtsmarkt vor der Alten Börse.

Und wer ist alles mit drin in der Gesellschaft?

Wir sind insgesamt 150 Lotterfreunde derzeit, eine bunt gemischte Truppe, Studenten, Berufstätige, Senioren, Frauen, Männer, gebürtige Leipziger ebenso wie Zugezogene oder auch Weggezogene, die den Draht zur alten Heimat nicht verlieren wollen. Menschen, die sich für Geschichte ebenso interessieren wie für Kultur, die gern in Leipzig leben oder auch nur mal hier zu Besuch waren und sich spontan in die Stadt verliebt haben. Also einfach Leute ganz unterschiedlicher Couleur und mit vielen Interessen. Das macht es für mich auch immer wieder so spannend hier. Generell verbindet uns wohl alle, dass uns Leipzig sehr am Herzen liegt und wir alle etwas beitragen wollen zu „unserem Leipzig“.

Unter anderem habt ihr wichtige Bilder gerettet und seid auch sonst jederzeit für den Acker, in dem die Stadt ihre Wurzeln hat und aus dem die ideelle Nahrung kommt, in Aktion. Was plant ihr konkret für 2021?

Ein großes Thema für uns im kommenden Jahr ist unser 25. Geburtstag. Am 2. Dezember 1996 wurden wir nämlich in der Ratsstube im Alten Rathaus gegründet, das wollen wir natürlich gern groß mit einem Festakt feiern und hoffen, dass Corona uns auch lässt. Im Rahmen des Jubiläumsjahres planen wir eine eigene Publikation, eine Lotter-Zeitschrift, mit der wir uns den Leipzigern mal so richtig vorstellen wollen. Außerdem wird es am 27. Juni ein deutsch-sorbisches Benefizkonzert in der Alten Handelsbörse mit unseren Freunden von den Markkleeberger Vocalisten und dem sorbischen Chor „Lipa“ geben. Zugegeben ist das Sorbentum in Leipzig nicht ganz so stark verankert wie in anderen Teilen Sachsens. Tatsächlich haben aber auch in unserer Geschichte slawische und eben auch sorbische Einflüsse ihre Spuren hinterlassen. Es lohnt sich durchaus, dessen einmal bewusst zu werden.

Ähnlich wie in diesem Jahr wird uns auch im nächsten Jahr noch unser großes Förderprojekt, die Restaurierung des historischen Ratsschranks aus dem Alten Rathaus, beschäftigen. Dieser Schrank von 1592 ist beinahe so alt wie das Rathaus selbst und tatsächlich ein authentischer Zeuge Leipziger Ratsgeschichte. Der Überlieferung nach wurde er in über 400 Jahren seit seiner Anschaffung nicht bewegt. Nun haben wir es einmal in Angriff genommen, ihn zu restaurieren, denn tatsächlich nagte der Zahn der Zeit ganz erheblich an ihm. Es drohte der Verfall und möglicherweise sogar der Verlust. Das wollten wir unbedingt verhindern. Daher ging er in diesem Jahr zum Restaurator. Die Arbeiten werden sich aber bis zum nächsten Sommer noch hinziehen.

Die Kosten für die Restaurierung betragen insgesamt knapp 50.000 € und sind schon eine ziemliche Nummer für uns. Wir haben schon sehr viele Spenden dafür bekommen und sind auch überglücklich darüber. Aber ein bisschen fehlt noch. Wir bleiben also dran und sammeln weiter, sodass dieses Projekt im kommenden Jahr abgeschlossen und der Bürgermeisterschrank den Leipzigern wieder in altem, neuem Glanz präsentiert werden kann.

Und was habt ihr während der Corona-Stille getan?

Corona hat uns, wie alle anderen auch, natürlich ganz schön ausgebremst. Wir mussten erstmal alle Veranstaltungen abblasen. Das Museum hat in dieser Zeit viel virtuell angeboten, kleine Vorstellungsfilme aus einzelnen Bereichen des Museums, Mitmach-Videos für Kinder und eine Online-Ausstellung mit dem Titel „Hoffnungszeichen“. Wir haben dann im Sommer eine große Spendenaktion ins Leben gerufen und sie passenderweise „Hoffnungsspender“ genannt.

Uns war wichtig, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern gerade in einer solchen Krise zu zeigen, dass wir an der Seite des Museums stehen und in diesem Jahr besonders unterstützen. Über 10.000 € Spenden sind so zusammengekommen und es waren diesmal tatsächlich weniger Firmen, die uns sonst spenden, aber in diesem Jahr natürlich ganz eigene Sorgen haben, sondern es waren überwiegend Privatleute, die gesagt haben: „Wir stehen an eurer Seite und helfen mit, dass das Museum ein vielfältiger und lebendiger Ort bleibt.“.

Das war wirklich eine tolle Erfahrung. Wir haben unglaublich viel Zuspruch bekommen. Und es hat mir auch ganz persönlich nochmal gezeigt: Wenn es drauf ankommt, ist auf die Leipziger Verlass. Da kommt dieser oft beschworene alte Bürgergeist wieder zum Vorschein, der die Stadt doch so geprägt hat.

Mit dem Geld haben wir im übrigen neue Museumsschätze angekauft, u.a. Lithografien von Max Klinger, wir haben ja schließlich das Klinger-Jahr, aber auch den Begleitband zur aktuellen Sonderausstellung „… oder kann das weg?“. Die Frage ist natürlich ironisch gemeint. Die Ausstellung zeigt zahlreiche Exponate, die alle auf ihre Weise interessante Geschichten erzählen, aber häufig in Ausstellungen nicht gezeigt werden konnten, weil sie thematisch nicht passen. Außerdem erstellen wir gerade eine Informationstafel, die in Kürze an der Außenfassade des Alten Rathauses angebracht wird und die Leipziger und ihre Gäste über die Geschichte und Besonderheit dieses Wahrzeichens der Stadt informieren soll.

Neben deinem ehrenamtlichen Engagement bist du auch Lehrer. Das ist ein Beruf, der in der derzeitigen Diskussion auch immer wieder befleckt und angegriffen wird – in Frankreich wurde ein Lehrer, der zum Thema „Meinungsfreiheit“ lehrte, auf offener Straße geköpft. Wohin trudelt das Bildungssystem gerade?

Das Attentat in Frankreich hat mich sehr erschüttert, immerhin war der Kollege ja auch Geschichtslehrer wie ich. Auch ich versuche, meinen Schülern in Geschichte oder im Politikunterricht den Wert von Meinungsfreiheit auch an besonders kontroversen Beispielen zu verdeutlichen. Da entstehen mitunter heftige Diskussionen in den Klassen und gerade das will ich auch erreichen. Das ist mir wichtig. Aber es muss auch immer klar sein, wo die Grenzen sind. Dort, wo es gewalttätig wird, hört es einfach auf. Ich werde mit meinen Schülern über die Ermordung des französischen Lehrers sprechen und bin gespannt, was sie dazu sagen. Für mich persönlich ist aber klar: Auch solche, zugegebenermaßen kontroversen Karikaturen wie die über den Propheten Mohammed, müssen thematisiert werden, in der Schule und auch außerhalb. Das muss in einer Demokratie erlaubt sein.

Unser Bildungssystem ist immer auch Spiegelbild der Gesellschaft. Und die aktuellen Verwerfungen, die zunehmenden Spannungen zwischen teilweise schon unversöhnlichen Gruppen, mitunter auch der wachsende Hass in unserer Gesellschaft, all das drückt sich natürlich auch in der Schule aus. Ich merke das auch persönlich. Nun unterrichte ich aber mit Geschichte und Politik auch zwei Fächer, wo es ohnehin sehr lebhaft zugeht, wo kontrovers diskutiert wird und werden soll. Klar, da wird es manchmal auch laut, da wird mitunter auch wirklich sehr grundsätzlich diskutiert. Kann der Mensch mit seiner Freiheit überhaupt umgehen? Ist Demokratie noch zeitgemäß? Wie viel Spaltung hält unser Land noch aus? Wird es unsere Gesellschaft in 10 oder 20 Jahren so überhaupt noch geben?

Fragen wie diese beschäftigen die Schüler und sie finden mitunter ganz andere Antworten darauf als ich, obwohl ich auch noch nicht so alt bin. Das finde ich ungemein faszinierend, auch wenn ich da mitunter ganz andere Meinungen vertrete als die Schüler. Eins steht fest: Dass die Jugend unpolitisch sei und nur für sich selbst lebe, ist Quatsch. Das erlebe ich tagtäglich anders und begegne unglaublich intelligenten, reflektierten und nachdenklichen jungen Menschen. Das macht meinen Beruf auch so spannend.

Lotter war ja dereinst Bürgermeister unserer Stadt. Papst Franziskus warnte gerade in seiner beeindruckend-menschenverbindenden Schrift „Fratteli Tutti – über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“: „Aus dem gleichen Grund wird ein Verlust des Geschichtsbewusstseins gefördert, das eine weitere Auflösung hervorruft. Man nimmt das Vordringen einer Art von „Dekonstruktivismus“ in der Kultur wahr, bei dem die menschliche Freiheit vorgibt, alles von Neuem aufzubauen. Aufrecht bleibt nur das Bedürfnis, grenzenlos zu konsumieren, und das Hervorkehren vieler Formen eines inhaltslosen Individualismus. In diesem Zusammenhang ist ein Rat angebracht, den ich einmal Jugendlichen gegeben habe: »Wenn jemand euch ein Angebot macht und euch sagt, ihr braucht die Geschichte nicht zu beachten, den Erfahrungsschatz der Alten nicht zu beherzigen und ihr könnt all das missachten, was Vergangenheit ist, und sollt nur auf die Zukunft schauen, die er euch bietet, wäre dies nicht eine einfache Art, euch mit seinem Angebot anzuziehen, um euch nur das tun zu lassen, was er euch sagt? Dieser Jemand benötigt euch leer, entwurzelt, gegenüber allem misstrauisch, damit ihr nur seinen Versprechen vertraut und euch seinen Plänen unterwerft. So funktionieren die Ideologien verschiedener Couleur, die all das zerstören – oder abbauen –, was anders ist; auf diese Weise können sie ohne Widerstände herrschen."

Nun ist bei all der rasenden Transformation, dem Wachstumswahn und der exzessiven Neugestaltung – so spüren viele Menschen – kaum noch Luft zum Erhalt. So viele wollen ernten, ohne zu säen. Müssten da Menschen, die sich aktiv an der Pflege des Geschaffenen beteiligen, nicht viel lauter sein?

Das ist ein sehr interessantes Zitat des Papstes. Tatsächlich höre ich immer wieder diese Sorge, insbesondere von Älteren, dass man nichts aus der Geschichte lerne, dass die Jugend sich nicht belehren lasse und dass alles nur ein ewiger Kreislauf aus den immer gleichen Fehlern und Irrtümern sei. Da kommt auch ein Kulturpessimismus zum Ausdruck. Andererseits – und hier muss ich nochmal als Lehrer reden – erlebe ich gerade bei jungen Menschen auch eine ungemeine Faszination für die Geschichte und ein großes Interesse, sich mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Geschichte gibt eben auch Orientierung und Halt, also etwas, was ich persönlich und ich meine, auch viele andere, heute vermissen.

Klar, wenn es ums Bewahren geht, um die „Pflege des Geschaffenen“, wie ihr so schön sagt, dann gilt natürlich die alte Binse: Gemeinsam statt einsam. Gemeinsam erreicht man natürlich mehr, als wenn jeder seine eigene Suppe kocht. Wir als Hieronymus-Lotter-Gesellschaft geben eine Antwort, wie so etwas aussehen könnte. Aber es gibt sicherlich noch ganz viele andere Möglichkeiten.

Ihr engagiert euch ganz besonders für das Stadtgeschichtliche Museum. Wie kann geholfen werden?

Ganz unterschiedlich. Natürlich freuen wir uns immer über neue Gesichter in unserer Fördergesellschaft, also Interessierte, die gern Mitglied werden wollen. Wir sind grundsätzlich offen für jeden. Nun weiß ich aber auch, dass viele gleich vor einem Vereinsbeitritt zurückscheuen, weil das wie etwas Endgültiges wirkt. Wer mal schauen will, was wir so alles machen, kann auch einfach bei einer unserer Veranstaltungen vorbeikommen. Die sind nämlich immer öffentlich. So kann man uns kennenlernen, ohne sich gleich fest zu binden.

Gleichwohl freuen wir uns auch immer über tatkräftige Unterstützung. Wer also Zeit und Lust hat, selbst etwas zu organisieren und bei etwas mitzuwirken, kann uns ebenso jederzeit ansprechen.

Natürlich müssen wir an der Stelle, wir sind schließlich ein Förderverein, auch über das liebe Geld reden, denn wie sagt ein bekannter Ausspruch: „Am Gelde hängt’s, zum Gelde drängt’s.“ Selbstverständlich freuen wir uns auch über Spenden, große wie kleine. Nur so können wir unsere Arbeit finanzieren und das Museum wirklich dauerhaft und nachhaltig unterstützen. Wer uns also finanziell unterstützen möchte, kann dies ebenfalls gern tun.

Uns erreicht man im Übrigen ganz leicht über unsere Email-Adresse info@lotter-gesellschaft.de. Auf unserer Homepage www.lotter-gesellschaft.de erfährt man noch mehr über unseren Verein und wie man sich einbringen kann.

Und du selber? Was treibt dich an?

Ich bin gebürtiger Leipziger, mich hat es nie weggezogen aus dieser wunderschönen Stadt, mit all ihren Ecken und Kanten, mitunter auch vielen unfertigen Seiten. Aber gerade das macht Leipzig, wie ich finde, so einzigartig und liebenswert. Mein Ehrenamt gibt mir die Möglichkeit, nicht nur das, was ich so liebe, zu bewahren, sondern das Stadtbild auch ein ganz kleines bisschen mit zu zeichnen.

Ich habe vorhin vom viel beschworenen Bürgergeist der Leipziger gesprochen. Das spürt man, finde ich, auch heute noch, wenn man sich in Leipzig engagiert. Ganz viele Menschen, egal ob sie hier geboren wurden oder zugezogen sind, wollen etwas aktiv mitgestalten, geben sich nicht einfach zufrieden, sondern wollen einen Beitrag leisten zur Stadtgesellschaft. Das macht unsere Stadt so besonders. Und ich möchte gern sagen können, dass ich ein Teil davon bin.

Danke für deine Zeit und deine Antworten.

Sehr gern. Ich danke euch für euer Interesse. 

Hieronymus-Lotter Gesellschaft 
zur Förderung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig e.V.

www.lotter-gesellschaft.de

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