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Interview zum Thema Sexarbeit

„Sexwork ist Arbeit“

Anfang September 2020 standen an zwei Tagen die Beraterinnen Frau Herzog und Frau Apsel vom Projekt „Leila“ der aidshilfe leipzig sowie die Escortdame und Kokotte Tamara auf dem Richard-Wagner-Platz Leipzig, um zum Thema Sexwork ins Gespräch zu kommen und Aufklärung zu betreiben. Ahoi-Redakteur Volly Tanner war neugierig und ging hin. Die Antworten des Interviews wurden schriftlich gegeben, um die Sicherheit einer wortwörtlichen Veröffentlichung zu garantieren.

Frau Herzog, Tamara und Frau Apsel (v.l.n.r.) klären über Sexwork auf © Volly Tanner

Ahoi: Guten Tag, liebe Frau Apsel, liebe Frau Herzog, liebe Tamara. Wir trafen uns auf dem Richard-Wagner-Platz zu Leipzig, während Sie mit dem LOVE MOBIL zu den Themen „Sexwork“ und „Betroffenensicht“ informierten. Die große Überschrift war dabei: „Sexwork ist Arbeit“. Sie, Frau Apsel und Frau Herzog, arbeiten bei der Fachberatungsstelle für Sexarbeit „Leila“ und Sie, Tamara, als Independent Escort, Kokotte und Halbweltdame in Leipzig, Berlin, Wien etc..

Zuerst zu Ihnen, Frau Apsel und Frau Herzog: Was ganz konkret machen Sie bei „Leila“?

Apsel: „Leila“ ist ein neues Modellprojekt der aidshilfe leipzig und die erste Fachberatungsstelle für Sexarbeit in ganz Sachsen. Uns gibt es seit Oktober letzten Jahres und leider ist das Projekt auch erstmal bis Ende des Jahres befristet. Das Team besteht aus zwei Sozialarbeiterinnen. Als unabhängige Stelle bieten wir anonyme und kostenlose Beratung sowie Begleitung für Sexarbeiter*innen, das heißt, für Menschen, die erotische und sexuelle Dienstleistungen anbieten. Zum einen können sich Sexarbeiter*innen bei uns melden, wenn sie Fragen zu verschiedenen Themen rund um ihr Arbeitsfeld haben. Wir bieten Beratung zu Themen der sexuellen Gesundheit an, informieren über gesetzliche Bestimmungen, vermitteln an andere Stellen z.B. für Steuerberatung und begleiten bei Ämter- und Behördengängen. Um unser Angebot bekannt zu machen, suchen wir die sogenannten Prostitutionsstätten in Leipzig auf und weisen auf die Beratungsangebote hin. Da kommt man dann manchmal schon vor Ort ins Gespräch.

Es kommen auch immer wieder Berufseinsteiger*innen zu uns, die beispielsweise Fragen zu ortsüblichen Preisen und Mieten haben oder auch Sexarbeiter*innen, die sich mit Kolleg*innen vernetzen möchten. Da ihr Beruf leider gesellschaftlich immer noch wenig anerkannt ist, ist es für viele schwierig, über ihren Berufsalltag zu sprechen und sich mit anderen darüber auszutauschen. Dabei wissen wir ja alle selbst, wie wichtig es ist, wenn man sich nach Feierabend mal über einen schlecht gelaufenen Tag oder einen Streit mit der Kollegin zuhause auslassen kann. Das ist für die eigene Psychohygiene sehr wichtig, auch für Sexarbeiter*innen.

Aufgrund des starken Stigmas, mit dem sexuelle Dienstleistungen behaftet sind, fällt es vielen aber schwer, sich ihrem privaten Umfeld anzuvertrauen und sie sind aus Angst vor Ablehnung teilweise gezwungen, ihre Tätigkeit zu verheimlichen. Das kann sehr belastend sein und strengt an. Deshalb bieten wir auch Beratung für Angehörige und Kund*innen, um beim Abbau von Vorurteilen zu unterstützen. Außerdem beraten wir Personen, die sich beruflich neu orientieren und aus der Sexarbeit aussteigen möchten. Aufgrund des schon angesprochenen Stigmas gegenüber Sexarbeiter*innen bringt es eine große Hürde mit sich, wenn man einen beruflichen Neustart wagen möchte. Denn wie erklärt man dem*der Arbeitgeber*in z.B. die 3-jährige Lücke im Lebenslauf, wenn man sich nicht direkt outen möchte? Oder hat man überhaupt eine Chance im Bewerbungsverfahren, wenn man mit dieser Tätigkeit offen umgeht? Leider erfahren auch ehemalige Sexarbeitende lange nach dem Wechsel in ein anderes Berufsfeld immer noch Diskriminierung und Ausgrenzung. Deshalb geht unsere Arbeit als Fachberatungsstelle für Sexarbeit weit über die Beratung selbst hinaus.

Mit Öffentlichkeitsveranstaltungen wie dieser heute möchten wir Stigma und Vorurteilen zu Sexarbeit in der Gesellschaft entgegnen und dazu beitragen, dass diese abgebaut werden. Wir möchten mit Menschen ins Gespräch kommen und dabei realistische Vorstellungen von diesem diversen Arbeitsfeld und den darin tätigen Menschen geben. Dabei ist es besonders wichtig, den Personen selbst eine Plattform zu bieten. Besonders beim Thema Sexarbeit wird viel über die Menschen geredet, anstatt sie selbst als Expert*innen über ihre eigene Arbeit sprechen zu lassen. Dafür sind wir heute hier – solidarisch mit Sexarbeitenden und ihrer Arbeit.

Ahoi: Sie, Frau Apsel, haben den Abschluss „M.A. African Studies“ und Sie, Frau Herzog einen „B.A. Soziale Arbeit“. Wie sind Sie denn eigentlich auf das Thema Sexarbeit gekommen? Für die meisten Entscheidungen auf dem Lebensweg braucht es ja Betroffenheit, einen Moment der Entscheidung.

Apsel: Ich bin sogenannte Quereinsteigerin in der sozialen Arbeit und über ein Praktikum während meines Masterstudiums zur aidshilfe leipzig gekommen. Das Thema Sexarbeit hat mich dabei zunächst aus einer politischen, feministischen Perspektive interessiert, bis ich über meine Arbeit in der aidshilfe auch aus fachlicher Perspektive damit in Berührung kam. Als Kooperationspartnerin unterstützte ich eine Kollegin des Gesundheitsamts bei der aufsuchenden Arbeit in sogenannten Prostitutionsstätten und bekam erste Einblicke in die Arbeitsrealitäten von Sexarbeiter*innen. Und ich wurde darauf aufmerksam, wie schlecht das Beratungsangebot für Sexarbeitende in Sachsen ist, während diese Personengruppe so viel Stigmatisierung und Diskriminierung erfährt. Gleichzeitig besuchte ich in Leipzig Veranstaltungen von Sexarbeitsgegner*innen und war schockiert, wie die gesellschaftliche Abwertung von Sexworkern dort reproduziert wurde. Mir wurde klar, dass es zur Verbesserung der Situation von Sexarbeiter*innen nicht nur mehr Beratungsangebote braucht, sondern auch Antidiskriminierungsarbeit. Mit „Leila“ gibt es jetzt die Chance für mich, beides mitzugestalten.

Herzog: Ich habe erst mit 30 mein Studium begonnen und war vorher lange im Alg-II-Bezug. Ich finde, das System Hartz-IV ist ein sehr ungerechtes und bevormundendes System. Mein Gerechtigkeitssinn ist sehr ausgeprägt und als ich mich für das Studium entschieden habe, lag mein Blick gleich auf marginalisierten und stigmatisierten Menschen. Gerade als das Prostituiertenschutzgesetz verabschiedet werden sollte, stand meine Bachelorarbeit an und so beschäftigte ich mich mit dem Thema. Während meiner Recherche lernte ich den BesD e. V. sowie BufaS e. V. kennen und erfuhr immer mehr über die Hurenbewegung. Die ungerechte Behandlung und Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen, welche seit Jahrhunderten existieren, haben mich erschrocken und dazu gebracht, mich mit der Lebensrealität von Sexworkern zu befassen und etwas bewegen zu wollen.

Ahoi: Und Sie, Tamara? Wie kam es, dass Sie Sexworkerin wurden?

Tamara: Bei mir war das tatsächlich eine sehr bewusste Entscheidung, die viel mit meiner privaten Sexualität und meinem grundsätzlichen Lebensentwurf zu tun hat. Ich habe mir sehr früh Gedanken darüber gemacht, wie Geschlechterbilder, zwischenmenschliche Beziehungen, Rollenverteilungen und von der Gesellschaft geprägte Körperbilder und Stereotype funktionieren und was das mit mir als Mensch, im speziellen aber mit mir als weiße Cis-Frau macht. 

Daraus resultierend war mir in der Entwicklung meiner eigenen Sexualität recht früh klar, dass ich keine sexuell monogamen Beziehungen führen möchte und kann. Da lag es irgendwann nahe, wenn ich mich eh mit fremden Menschen zu sexuellen Kontakten treffe, dann kann ich eigentlich auch Geld dafür nehmen. Gesagt, getan.

Ahoi: Das Thema Sexwork wird oft sehr unoffen diskutiert – jedoch scheint sich dies, auch durch die Arbeit des BesD – zu ändern. Können Sie uns etwas über den BesD erzählen?

Tamara: Der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. (BesD) ist ein deutschlandweit agierender Verband von aktiven und ehemaligen Sexworkern, der sich für die Rechte von allen in der Sexarbeit tätigen Menschen einsetzt, gegen die Diskriminierung und Stigmatisierung dieses Berufsstandes aktiv vorgeht. Man kann sagen, das ist quasi die Gewerkschaft aller Sexworker. Innerhalb des Verbandes wird an verschiedenen Projekten gearbeitet, um aktiv die Bedingungen in unserer Branche zu verbessern, wir nehmen an politischen Expertenrunden teil, werden auf verschiedene Veranstaltungen eingeladen, um Vorträge zu halten und beteiligen uns an Aktionen von anderen Sexworker-Verbänden.

Seit März, also bedingt durch die Corona-Folgen, gibt es unter dem Dach des Verbandes den Nothilfe-Fonds für Sexworker in finanziellen Notsituationen, der sich rein aus Spenden finanziert.

Ahoi: Auf den Seiten der aidshilfe leipzig gibt es viele Beratungs- und gesundheitliche Bildungsangebote. Können Sie uns da etwas Einblick gewähren?

Apsel: Ja, die aidshilfe leipzig ist in diesem Bereich sehr breit aufgestellt. Wie der Name schon erahnen lässt, arbeiten wir (unter anderem) im Bereich HIV/Aids. Wir beraten Menschen zu Fragen rund um HIV/Aids, z. B. bei Verdacht auf ein Infektionsrisiko. Außerdem betreuen und begleiten wir Menschen mit HIV. Darüber hinaus haben wir verschiedene sexuelle Bildungsangebote rund um das große Thema sexuelle Gesundheit. Das meint zum einen Präventionsarbeit. Dafür gehen wir an Schulen, bieten Weiterbildungen für aktive und zukünftige Lehrkräfte, für medizinisches Personal und schulen andere Multiplikator*innen. Dabei unterstützen uns unsere ehrenamtlichen Präventionsteams auch im Leipziger Nachtleben mit sogenannter Partyprävention. Vielleicht ist dem*der ein oder andern Leser*in beim Feiern ja schonmal ein Tablett mit Kondomen, Bonbons und Infomaterial gereicht worden – das waren unsere engagierten Ehrenamtlichen.

Außerdem bieten wir sexualpädagogische Veranstaltungen für verschiedene Bildungseinrichtungen und Zielgruppen an und sind dafür in ganz Leipzig und dem Umland unterwegs. Ziel dieser vielfältigen Bildungsangebote ist es, mehr Menschen mit umfassenden Wissen über Sexualität und den eigenen Körper zu einem emanzipierten und selbstbestimmten Sexual- und Liebesleben zu verhelfen.

Ahoi: Tamara – nun liegt seit März der ganze Berufsstand brach. Wiederzulassungen finden sehr unorganisiert und zögerlich statt. Was denken Sie, woran das liegt?

Tamara: Das ist richtig. Unsere Branche war eine der ersten, die nicht mehr arbeiten durfte und auch bis heute noch nicht wieder vollständig und wenn überhaupt nur unter strengsten Auflagen wieder arbeiten darf. Das hatte und hat für viele Menschen in der Sexarbeit verheerende Folgen, nicht selten bis zur Obdachlosigkeit.

Meiner Meinung nach liegt das vor allem daran, dass sehr viel über unsere Branche geredet wird, eine Menge gefährliches Halbwissen und viele Klischees existieren, die nichts mit der Realität unserer Arbeitswelt zu tun haben. Kaum jemand aber spricht mit Sexworkern selbst. Es ist im besten Falle schlichte Unwissenheit darüber wie wir arbeiten, wie die Branche funktioniert und was wir tatsächlich brauchen. Da möchte sich quasi niemand mit konkreten Entscheidungen die Finger verbrennen. Im schlimmsten Fall aber, und das ist nicht selten, ist es das Bestreben, Sexarbeit in Deutschland abzuschaffen und zu verbieten (nach Vorbild von Schweden oder Frankreich ein Sexkaufverbot einzuführen), da kommt eine solche Pandemie und ein damit einhergehendes Berufsausübungsverbot quasi wie gerufen.

Ahoi: Wovon leben Sie, wenn Sie wie jetzt gerade ihrem Beruf nicht nachgehen dürfen?

Tamara: Nun, das war und ist nicht nur für mich, sondern für fast alle meine Kolleg*Innen, in welchem Bereich der Sexarbeit auch immer, eine katastrophale Zeit. Ich habe mir von Freunden, Bekannten, Familienangehörigen, von Menschen, bei denen ich auch geoutet bin, Geld geliehen. Ein ganz klein wenig Geld habe ich über den Verkauf von Fotos an meine Kund*Innen eingenommen. Seit fünf Monaten habe ich keine Miete gezahlt, was nur funktioniert, weil mein Lebenspartner glücklicherweise sämtliche Mietkosten übernommen hat. Ich bin finanziell am Arsch, um es mal so zu formulieren.

Soforthilfen gab es in Sachsen nur als Kredite, wie sollte ich den aber jemals abbezahlen. Die bundesweite Soforthilfe konnte man nur für gewerbliche Kosten beantragen, nicht für Lebenshaltungskosten. Sowohl ich als auch ein Großteil meiner Kolleg*Innen haben aber kaum gewerbliche Kosten. Ich brauche zum Arbeiten im Grunde nichts weiter als mich, einen Laptop, ein Handy und ein wenig Werbung. Von der Soforthilfe der Stadt Leipzig waren Sexworker explizit ausgeschlossen. Die Grundsicherung, also ALG II oder Hartz IV, kann ich nicht beantragen, weil das ein Zwangsouting vor Familienmitgliedern bedeuten würde. Ich denke, da geht es mir wie einem Großteil meiner sexarbeitenden Kolleg*Innen. Und das alles, das sei nochmal betont, obwohl ich genauso Steuern, Versicherung usw. zahle wie jeder andere Mensch in Soloselbständigkeit.

Ahoi: Verschiedentlich wird vom coronabedingten Abtauchen der Sexarbeiterinnen in die Illegalität berichtet. Speziell in Leipzig – wie ist in unserer Stadt der derzeitige Stand?

Apsel: Auch unser Eindruck bestätigt das. Sexarbeitenden wurde und wird ihre Einkommensgrundlage durch das teilweise noch bestehende Arbeitsverbot entzogen, ohne dass der Staat Unterstützung bietet. Insbesondere Personen, die vom deutschen Hilfesystem ausgeschlossen sind und keine anderen Erwerbsalternativen haben, bleibt so nur die Arbeit in der Illegalität. Auch in Leipzig sind Sexarbeiter*innen deshalb gezwungen, illegal weiterzuarbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern. 

Tamara: Genaue Zahlen dazu habe ich nicht. Aber ich weiß, dass sehr viele meiner Kolleg*Innen auch im Verbot weitergearbeitet haben. Wie auch nicht, was bleibt einem übrig? Wovon soll man Miete und Essen zahlen, Kinder versorgen? Das ist natürlich in jeder Hinsicht sehr gefährlich, quasi ein Ausblick auf Zustände unter Sexkaufverbot.

Ahoi: Welche Gesetzgebung wäre denn beim Thema Sexarbeit aus Ihrer Sicht optimal?

Herzog: Mit dem ProstG wurde 2002 die Sittenwidrigkeit der Sexarbeit aufgehoben, was ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung mit anderen Dienstleistungen darstellte. Weiterhin haben sich dadurch die Arbeitsbedingungen verbessert, weil der Betrieb eines Bordells seither nicht mehr als Förderung der Prostitution gilt. Mit dem ProstSchG wollte man die Menschen in der Sexarbeit vor Ausbeutung und Zwang schützen - hat aber für mehr Gefahren, Stigmatisierung und Kriminalisierung gesorgt.

Meiner Meinung nach braucht es für die Berufsgruppe der Sexarbeitenden keine Sondergesetze. Die Registrierung treibt viele Menschen in die Illegalität, dabei würde die Anmeldung der selbständigen Tätigkeit beim Finanzamt vollkommen ausreichen. Durch die Konzessionspflicht des ProstSchG sind viele gute Arbeitsplätze weggebrochen. Die Vielfältigkeit der Arbeitsorte und -plätze in der Erotikbranche wurde bei der Gesetzgebung völlig außer Acht gelassen und so wurden Auflagen für den Betrieb von Bordellen, Clubs usw. festgelegt, die an der Arbeitsrealität vieler Sexarbeitenden vorbei gehen.

Weiterhin sollten Sperrbezirksverordnungen abgeschafft werden. Auch diese kriminalisieren Sexarbeiter*innen und stellen eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen Branchen dar.

Nur durch eine Liberalisierung der Sexarbeit und die Stärkung der Rechte von Sexarbeiter*innen können Arbeitsbedingungen verbessert und das Stigma langfristig abgebaut werden.

Tamara: Wir brauchen eine komplette Gleichstellung von Sexarbeit mit anderen Freien Berufen, eine vollständige Entkriminalisierung und Entstigmatisierung. Ausführliche Forderungen und Erklärungen dazu findet man auch unter https://berufsverband-sexarbeit.de/index.php/verband/unsere-forderungen/.

Ahoi: Gerade war ich auf Ihrer Homepage, Tamara – da bieten Sie über Ihre Blogosphäre „Lovestories und Social Dates“ an. Das finde ich ja faszinierend. Erzählen Sie mal bitte unserer Leserschaft, was das ist.

Tamara: Im klassischen Escort-Bereich gibt es die sogenannten „social dates“ und die „private dates“. Ersteres sind Verabredungen, bei denen man gemeinsame Zeit jenseits von intimen körperlichen Kontakten in privaten Räumen miteinander verbringt, zum Beispiel gemeinsam Essen geht, ins Theater, ins Kino oder ins Museum, auch die Begleitung auf einen Geschäftstermin usw. Gerade, aber nicht nur, in Zeiten von Corona wünschen sich Menschen Begleitung und Gesellschaft, möchten Dinge nicht allein tun und buchen deshalb im besten Falle mich.

Die „Lovestories“ sind meine erotische Reminiszenz an die guten alten Bravo-Lovestories der 90er Jahre in denen kleine Geschichten bebildert wurden. Man kann mir bestimmte Vorlieben, Wünsche, Sehnsüchte oder Fetische schildern und ich setze diese in kleinen Geschichten mit visuellen Eindrücken um. Das hat auch ein bisschen was von Pin-Up-Heftchen der 50er Jahre.

Ahoi: Sexarbeit ist, auch wenn verdeckt praktiziert, ein Phänomen, welches sich durch alle Zeiten und Systeme zieht. Von was für Zahlen sprechen wir eigentlich in Deutschland? Gibt es offizielle Zahlen zu den unterschiedlichsten Segmenten?

Herzog: Laut statistischem Bundesamt waren bis Ende 2018 32.799 Personen gemäß ProstSchG angemeldet. Das ist eine offizielle Zahl. Sonst gibt es nur Schätzungen, welche sich zwischen 50.000 und 400.000 Personen bewegen. Der Deutsche Bundestag geht von der letztgenannten Anzahl aus, obwohl diese Zahl eine reine Schätzung ist, die Ende der 1980er Jahren in der Aktivistinnenszene im Rahmen der politischen Diskussion um die gesellschaftliche Anerkennung und Gleichstellung von Sexarbeiter*innen entstand. Sie entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Der Verein „Dona Carmen“, welcher sich für die sozialen und politischen Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzt, brachte im März 2020 eine Schätzung auf Grundlage einer Modellrechnung heraus und kam auf eine Zahl von etwa 90.000 Personen, die in Deutschland der Sexarbeit nachgehen. 

Für Leipzig gibt es Schätzungen des Gesundheitsamtes, welches seit 2012 aufsuchende soziale Arbeit an den Arbeitsorten macht und seit Herbst 2018 ebenso die Gesundheitsberatung gem. § 10 ProstSchG. Die geschätzte Zahl liegt bei 600 – 800 Sexarbeitenden in Leipzig.

Solange Sexarbeiter*innen so stark stigmatisiert sind, ist es praktisch unmöglich, realistische Zahlen zu erheben.

Ahoi: Beim Vorgespräch zu diesem Interview touchierten wir das Thema Menschenhandel – deshalb muss natürlich auch danach gefragt werden, schließlich ist für viele Menschen eine Verbindung zwischen diesen Begriffen greifbar. Nun glaube ich jedoch nicht, dass Sie, Tamara, von Erpressern zu ihrem Beruf erpresst werden. Sind diese Segmente öffentlich differenziert diskutierbar? Wie kann den von Menschenhandel betroffenen Frauen überhaupt geholfen werden? Wird geholfen? Wie ist da derzeit die Lage – in Leipzig, Sachsen und Deutschland?

Tamara: Ich denke, eine differenzierte und sachliche Diskussion zu diesem Thema ist leider viel zu selten möglich, eben aus Unkenntnis unserer tatsächlichen Arbeitsrealität und den häufig auftretenden moralischen Bedenken, die dieses Berufsfeld betreffen. Menschenhandel in der Sexarbeit gibt es. Genauso wie in anderen Branchen wie der Landwirtschaft, der Lebensmittelindustrie, der Pflege usw. Menschenhandel und Zwangsarbeit sind Straftatbestände, für die es in Deutschland bereits Gesetze gibt.

Apsel: Sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen erfordern immer beidseitiges Einvernehmen. Das gilt auch für sexuelle Dienstleistungen. Wenn kein Konsens vorhanden ist, ist das kein Sex, sondern Gewalt, und das unabhängig davon, ob vorher jemand dafür bezahlt wurde oder nicht. Diese Differenzierung ist wichtig. Aufgrund der starken Moralisierung von sexuellen Themen und insbesondere Themen, wo Frauen selbstbestimmt mit ihren Körpern umgehen wollen, werden Debatten schnell undifferenziert und emotional. Sexarbeit ist dafür nur ein Beispiel neben anderen Debatten wie z.B. Schwangerschaftsabbrüchen, wo dieselben moralischen Motive erkennbar sind; Frauen wird abgesprochen, frei über ihren Körper und ihre Sexualität bestimmen zu können. Wenn aber in Debatten Sexarbeit und Menschenhandel vermischt werden, nutzt das niemandem – vor allem nicht den tatsächlich von Menschenhandel Betroffenen. 

Menschenhandel bedeutet in Bezug auf sexuelle Ausbeutung, dass ein Zwang zur Ausführung der sexuellen Dienstleistungen vorliegt und diese nicht freiwillig und selbstbestimmt angeboten wird. Die Formen von Zwang sind dabei vielfältig, von direkter physischer Gewalt, über Erpressung bis hin zu Betrug. In Sachsen gibt es KOBRAnet, die Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel. Sie ist auch in Leipzig aktiv und begleitet Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind. Wichtig ist dabei, dass sexuelle Ausbeutung sichtbar gemacht wird. Wir als „Leila“ können nur vor die Tür einer Arbeitsstätte schauen und sehen wenig, was dahinter passiert. Wer mehr mitbekommt, sind Kunden. Es ist wichtig, dass Kunden von Sexarbeit für das Thema Zwang sensibilisiert werden und Warnsignale erkennen. Dann sind sie wichtige Zeugen, die Verdachtsfälle an die richtigen Stellen melden können. So können dann die zuständigen Beamt*innen der Kriminalpolizei und die Kolleginnen von KOBRAnet den Fällen nachgehen und möglichen Betroffenen Hilfe anbieten.

Ahoi: Gab und gibt es Unterstützung für die coronabedingten Arbeitsverbote im Bereich Sexarbeit? Wie wäre der wünschenswerte Zustand?

Tamara: Die gibt es leider kaum und viel zu wenig, wie auch die Arbeit für den Notfallfonds des BesD gezeigt hat. Die meisten Menschen in der Sexarbeit fallen durch alle Hilfsraster. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Es wäre schön, wenn wir wie alle anderen Menschen auch, unabhängig von Aufenthaltsstatus, Wohn- und Lebenssituation, frei von Stigma, Zugriff auf sämtliche Hilfssysteme hätten. Das wäre wenigstens ein Anfang.

Herzog: Es gab die Soforthilfe des Bundes für Soloselbständige, später auch von der Stadt Leipzig eine Soforthilfe von maximal 2.000 Euro – ebenfalls für Soloselbständige. Um diese Soforthilfen zu erhalten, musste man allerdings einige Auflagen erfüllen, z. B. hauptgewerblich selbständig zu sein. Viele Soloselbständige, nicht nur Sexarbeiter*innen, sind neben der Selbständigkeit noch sozialversicherungspflichtig angestellt, also nur nebengewerblich selbständig. Damit sind diese Personen schon mal raus bei der Soforthilfe. Als weitere Schwierigkeit kam die Begrenzung der Verwendung des Geldes ausschließlich für Betriebsausgaben. Sexarbeiter*innen haben kaum solche Betriebsausgaben – erst recht, wenn sie nicht arbeiten dürfen. Die Stadt Leipzig hat den Bereich Prostitution gleich von vorn herein ausgeschlossen – neben Clubs und Spielotheken beispielsweise. Vom Land Sachsen wurde ein Darlehen angeboten. Das war für viele Sexarbeitende ebenfalls keine Option, da überhaupt nicht klar war, wann sie wieder arbeiten können und ob dann überhaupt noch Bordelle existieren, in denen es annehmbare Arbeitsbedingungen gibt. 

Man hat bei den Soforthilfen mal wieder an den Arbeitsrealitäten der Menschen, die die coronabedingten Arbeitsverbote betrafen und betreffen, vorbei gehandelt. 

Für Menschen mit Meldeanschrift in Deutschland bestand zwar die Möglichkeit, Grundsicherung zu beantragen, jedoch ist zu vermuten, dass auch davor Viele Hemmungen hatten oder sich zumindest furchtbar gefühlt haben, sich mit allen Bedingungen diesem System zu unterwerfen, obwohl sie vorher unabhängig als Selbständige gearbeitet haben.

Wünschenswert wären schnelle, bedingungslose und niedrigschwellige finanzielle Hilfen. Gerade für Personen, die nicht gut deutsch sprechen und verstehen, braucht es einfache Zugänge zu unterstützenden Maßnahmen.

Ahoi: Was wünschen Sie sich von der Bevölkerung?

Tamara: Ich wünsche mir einen anderen, einen offenen und wertungsfreien Umgang unserer Gesellschaft mit Sexualität und allem, was damit einhergeht. Ich wünsche mir, dass ich in jeder Situation an jedem Ort und jedem Umfeld frei äußern kann, welchen Beruf ich habe, ohne dass ich dafür beurteilt oder gar verurteilt werde, dass MIT Sexworkern geredet wird und nicht ÜBER sie.

Apsel: Ich wünsche mir generell erstmal einen offeneren Umgang mit dem Thema Sexualität. Das ermöglicht uns als Gesellschaft so vieles, z. B. besseren, aufgeklärten Sex. Ich wünsche mir, dass Menschen nicht dafür verurteilt werden, wie sie Sex haben. Auch nicht, wenn sie sich dafür bezahlen lassen oder eben selbst dafür bezahlen. Sexarbeit ist Arbeit. Sie ist nicht wie jede andere, weil jeder Job einzigartig ist. Und es ist vollkommen in Ordnung, sich diese Arbeit nicht für sich selbst vorstellen zu können. Aber deshalb sollte man das anderen Menschen nicht auch per se absprechen. Hört Sexarbeiter*innen zu und redet MIT ihnen, anstatt nur über sie.

Das Projekt „Leila“ im Internet: www.leipzig.aidshilfe.de/sexarbeit

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