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Wie geht es den Menschen in der Ukraine und was wir tun können

„Niemand hat je mehr für das ukrainische Zusammengehörigkeitsgefühl getan als Putin.“

Schriftsteller und Journalist Dimitrij Kapitelman. Er ist in Kiew aufgewachsen, flüchtete mit seinen Eltern nach Leipzig und lebt dort seit über 25 Jahren. © Christian Werner

Dimitrij Kapitelman ist Schriftsteller und Journalist. Er ist in Kiew aufgewachsen, flüchtete mit seinen Eltern nach Leipzig und lebt dort seit über 25 Jahren. Über das Leben seiner Familie in Kiew und Leipzig hat er zwei berührend-schmerzhafte Romane verfasst.

Wir haben mit Dmitrij Kapitelmann über Putins Krieg in der Ukraine gesprochen, weil wir erfahren wollten, wie es den Menschen jetzt dort geht und was wir für diese Menschen tun können.

Ahoi: Herr Kapitelman, 1994 kamen Sie mit ihren Eltern als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ aus Kiew nach Sachsen, seit 26 Jahren leben Sie in Leipzig. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie jetzt gerade in Leipzig?

Dmitrij Kapitelman: Dieser Krieg konfrontiert uns alle erneut mit unserer Vergangenheit, unserer Herkunft. Und zwar auf eine so dramatische Weise, von der wir nie gedacht hätten, dass sie möglich wäre. Nicht mal meine unmöglich pessimistische Mutter. Dass jemand die Ukraine schlicht zerstören wollen würde – wenn er sie schon nicht besitzen kann. Wahnsinn. Das verstört. Nach all der Zeit sind die Bande doch noch immer da. Das ist die emotionale Seite. Eigentlich ist eine ganze emotionale Enzyklopädie. Praktisch versuchen wir natürlich auch, den Entkommenen hier beim Ankommen zu helfen. Und mit unseren Freunden in Kiew in Kontakt zu bleiben.

Ahoi: Und wie geht es Ihren Freunden in Kiew?

Dmitrij Kapitelman: Leider ist noch keiner in Sicherheit. Die meisten haben sich gegen die Flucht entschieden. Einer ist freiwillig zu den sogenannten territorialen Schutzbrigaden gegangen und kämpft. Ein anderer bringt sogar seiner Tochter bei, wie man mit einem Maschinengewehr schießt. Es ist schwer am Telefon herauszufinden, wie es ihnen dabei wirklich geht. Das muss ich respektieren, also nicht zu sehr nachhaken oder reinreden, wenn sie doch erstmal überleben und funktionieren müssen. Aber alle, wirklich alle sagen, dass es ein absoluter Albtraum ist.

Ahoi: Haben Sie vor zwei Wochen einen solchen Krieg für möglich gehalten?

Kapitelman: Ich habe gehofft, Putin würde sich mit der Legalisierung der Donbass-Gebiete sattfressen. Aber da habe ich mir mal schön selbst in den Arsch gelogen. In bester Gesellschaft mit all den westlichen Staatschef*innen , die sich ebenfalls diplomatisch in den Arsch logen. Im Nachhinein stellen sich natürlich die Fragen: Wenn Putin die Krim und den Donbass nehmen durfte, warum sollte er da aufhören? Warum sollte ihn eine gesperrte Pipeline abschrecken, nachdem er maßgeblich half, Syrien zu zerbomben? Die westliche Appeasementpolitik stellt sich nun gnadenlos als historischer Fehler heraus. Mal wieder. Und dass Putin der Ukraine ihr Existenzrecht abstreitet, hat er eigentlich auch längst groß und fett in allen Zeitungen gesagt.

Ahoi: Was halten Sie von Putins Drohung, Atomwaffen einzusetzen?

Kapitelman: Ich halte das für völlig wahnsinnig. So wie wir alle. Wenn man sich die momentane Zurückhaltung der NATO ansieht, scheinen die das für eine der ganz wenigen glaubwürdigen Aussagen Putins zu halten. Ich weiß es nicht. Aber allein, dass wir uns alle diese Frage stellen müssen, ist unfassbar.

Ahoi: Wladimir Putin führt in der Ostukraine seit 2014 Krieg. Was ist in diesen acht Jahren mit der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten und im Rest der Ukraine passiert?

Kapitelman: Die Bevölkerung hat sich halbiert. Halbiert! Der Donbass war ein absolutes Wirtschaftszentrum der Ukraine. Nun sind die Jungen und Fähigen weg, die Infrastrukturen kaputt. Jeder zweite Taxifahrer in Kiew ist ein Geflüchteter aus dem Donbass. Davon abgesehen: Die Ukraine ist im Osten nun eines der am meisten verminten Länder der Welt. Und drei Millionen Menschen waren schon vor der aktuellen Eskalation dort auf humanitäre Hilfe angewiesen. Will sagen: es ist eine Tragödie, in einer Tragödie, in einer Tragödie.

Ahoi: Wie verhält sich aus Ihrer Sicht der Westen insgesamt?

Kapitelman: Wie gesagt, der Westen war zu lange zu zögerlich gegenüber Putin. Vielleicht feige, am wahrscheinlichsten eher ökonomisch motiviert und egoistisch. Die Rufe der bedrohten baltischen Staaten wurden ignoriert. Dass in der Ukraine seit acht Jahren Krieg herrscht, hingenommen. Und was Deutschland angeht: Die Behauptung, dass Nordstream 2 ein reines Wirtschaftsprojekt sei, sie war so lächerlich und verlogen. Russisches Gas im Wert von etwa 800 Millionen Euro fließt immer noch täglich nach Deutschland. Das Geld in Putins Kriegskassen. Zelensky sagte kürzlich nach einem Telefonat mit Olaf Scholz, dass sei wie mit einer Wand zu sprechen. 

Ahoi: Putin spricht davon, dass er mit dieser „Operation“ die Ukraine „de-nazifieren“ will und bedient damit das Narrativ vom großen vaterländischen Sieg. Ihre Familie ist vor 26 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland emigriert, weil Ihr Vater – und nach russischem Recht unter der Nationalität „Jude“ geführt. Was empfinden Sie angesichts dieser Propaganda?

Kapitelman: Dieser Kriegsvorwand ist zutiefst zynisch, verlogen und bösartig. Und vor allem die Nazis aus aller Welt – sie lieben Putin – haben dafür gleich applaudiert.

Ahoi: In der Ukraine leben heute 43.000 Juden, darunter Überlebende des Holocaust, am Dienstag haben vermutlich russische Raketen die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar beschädigt. Wie bedroht sind jüdische Bürger jetzt in der Ukraine?

Kapitelman: In der Ukraine ist gerade niemand sicher. In Charkiw wurden scheinbar Streubomben über Wohngebieten abgeworfen. Und ich fürchte, dass der Krieg ab diesem Punkt nur noch zerstörerischer und bestialischer wird, mit der wachsenden russischen Frustration. Das schlimmste kommt also wohl noch – für ausnahmslos alle. Andererseits lehrt die Geschichte, dass es in katastrophalen Zeiten Juden noch etwas katastrophaler dran sind. Dass ihre Loyalität hinterfragt wird, ihre Heimattreue. Das kann schon durchaus noch antisemitische Zusatzscheiße werden.

Ahoi: Wie haben Putins Kriege in den letzten acht Jahren die ukrainische Kunst, vor allem die Literatur, beeinflusst?

Kapitelman: Das ist eine sehr große Frage, die ich mir eher nicht traue, zu beantworten. Niemand hat je mehr für das ukrainische Zusammengehörigkeitsgefühl getan als Putin. Dieses neue Wir-Gefühl, ein neuer Patriotismus der Verzweiflung, wird sicher Eingang in die Kultur finden. Im Publikum ist er ja ohnehin. Und natürlich sind solchen historischen Großereignisse auch der Stoff aus dem die wichtigsten Kulturzeugnisse der Zukunft bestehen werden. Im Krieg ist letztlich nichts so wichtig und gleichzeitig unbedeutend wie die Kultur. 

Ahoi: Bei diesem Krieg fällt auf: die überwältigende Solidarität von Autorinnen und Autoren, von Kunstschaffenden, Kulturinstitutionen. Was bedeutet Ihnen das?

Kapitelman: Es gibt mir Hoffnung. Es zeigt, dass so viele Menschen ein gutes Herz haben. Dann deprimiert es mich wieder, dass wir ständig in irgendwelchen Kriegen und Katastrophen stecken – wenn doch die meisten Menschen anständig sind und schlicht friedlich leben wollen. Wieso kommen wir dann nicht voran? Wie kann es sein, dass immer wieder ein psychischer Egomane einen Krieg befiehlt und alles mit dem Arsch einreißt?

Ahoi: Was halten Sie davon, dass das Internationale Buch-Forum in Lemberg und ukrainische PEN die internationale Literatur- und Verlagswelt zum Boykott von Büchern aus Russland aufgerufen haben?

Kapitelman: Ich glaube, dass das der falsche Kampf ist. Putin wird ganz sicher nicht zur Besinnung kommen, wenn in Württemberg kein Dostojewskij mehr ausliegt. Und nun die Verlage und Autor*innen isolieren, das klingt für mich in der Konsequenz schlicht nach mehr Schaden als Heil.

Ahoi: In Putins imperialem Denken gibt keine selbständige Ukraine und somit keine eigenständige ukrainische Kultur. Wir müsste unsere Solidarität mit Kunstschaffenden und Kunst-Institutionen aus der Ukraine aussehen?

Kapitelman: Ich finde es großartig, wie sehr ukrainischen Autor*innen und Künstler*innen gerade Raum gegeben wird. All die Buchläden, die deren Arbeiten gerade in den Schaufenstern auslegen. Die Literaturhäuser und Theater, die derzeit Benefiz-Veranstaltungen organisieren. In Berlin, Bremen, Köln, Rostock, Hamburg. Ich weiß gar nicht, ob der deutsche Kulturbetrieb – selbst noch von Corona in den Seilen hängend – gerade viel mehr unternehmen könnte. Da ist echte Anteilnahme und tiefe Traurigkeit, ebenso der Wille, irgendetwas gegen die Ohnmacht zu tun und diesem Schrecken etwas entgegenzusetzen.

Ahoi: Und eine letzte Frage: Wie können wir aus Deutschland jetzt konkret Bürgerinnen und Bürgern in der Ukraine helfen?

Kapitelman: Lokal schauen, was vor Ort benötigt wird. Manchmal sind es schlicht Socken, dann wieder Insulin, das ganz schnell hermuss. Es gibt schon recht viele Hilfsorganisation, die in den verschiedenen Städten arbeiten. Telegrammgruppen und Plattformen, die Wohnungen an entkommene Familien vermitteln. Und langfristig: Wenn der Krieg andauert, das wird er wohl, wenn der Schock etwas nachlässt und der kollektive Adrenalinspiegel absinkt und auch wenn die Rechten versuchen, politisches Profit aus dieser Katastrophe zu ziehen – dann wird es ganz wichtig sein, immer noch solidarisch zu sein. Darum bitte ich.

Ahoi: Wir danken Ihnen für dieses Interview. Das Interview führte Christiane Munsberg

Dmitrij Kapitelman, Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, dtv
2021 | ISBN: 978-3-423-14618-0 | 6. Auflage | 288 Seiten | EUR 10,90

Dmitrij Kapitelman, Eine Formalie in Kiew, Hanser Berlin
2021 | ISBN 978-3-446-26937-8 | Fester Einband | 176 Seiten | 20 EUR

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