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Interview: Musikjournalist Christian Hentschel

„Im Ostrock gibt es auch echte Perlen“

Gerade tobten wir noch mit Tausenden vor bespielten Bühnen herum. Dann kam Corona und es war Sense. So etwas gab es schon einmal, als für viele Bands aus dem Osten das Publikum wegbrach. Christian Hentschel ist Experte auf diesem Gebiet und hat gerade das Buch „Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch“ im Verlag „neues leben“ veröffentlicht. Ahoi-Redakteur Volly Tanner sprach mit ihm.

Christian Hentschel ist Musikjournalist und Autor des Buches „Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch“ © Ch. Gonz

Ahoi: Guten Tag, lieber Christian Hentschel. Du bist ja sozusagen der Ostrockexperte des Landes. Ostrock als Begriff wird von vielen Menschen immer noch abwertend genutzt, was bei Bayernrock oder Kölschrock nicht so ist. Was ist für dich Ostrock?

Guten Tag, lieber Volly Tanner. Mit dem Begriff „Ostrock" ist es so eine Sache, in der Tat war es früher eher ein Schimpfwort. Piefig klingt es bis heute, obwohl man ja mittlerweile weiß, dass Ostrock eben der Rock ist, der in der DDR seinen Ursprung hat. Und man weiß mittlerweile auch, dass es neben viel Unsäglichem echte Perlen gibt. Das ist ähnlich mit den DEFA-Filmen, ich habe mir selten einen angeguckt und wenn ich heute einen im Fernsehen sehe, denke ich oft, warum eigentlich nicht.

 

Ahoi: Gerade kam dein Buch „Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch“ im Verlag „neues leben“ heraus. Da hast du ja auch die Leipziger Thomas „Monster“ Schoppe (Renft) und Sebastian Krumbiegel (Die Prinzen) mit drin – aber auch andere Musikanten aus Leipzig, zum Beispiel Mike Kilians Sideprojekt „Final Stap“, werden erwähnt. Bezogen auf den Ostrock: Wie schätzt du die Stellung Leipzigs in der alten Musikmaschinerie ein? Berlin war ja der Hotspot – aber wo stand Leipzig?

Die meisten Ostrockbands lebten in Berlin. Wenn nicht von Anfang an, sind sie dort hingezogen. Die zwei TV- und die etwa fünf Radioprogramme fürs ganze Land saßen in Berlin, also war es unter Umständen schlau, auch dort zu wohnen. Nichtsdestotrotz gab es auch in jeder anderen Stadt eine Musikszene und die Leipziger war nach Berlin die präsenteste. Ich finde, von hier kamen immer wieder sehr spannende Bands. In den Siebzigern eben Bürkholz und Renft, in den Achtzigern Die Art und Amor & die Kids. In meinem Buch wird übrigens noch ein weiterer Leipziger erwähnt. Na gut, ein Fast-Leipziger: Michael Nass, heute bei BAP und Gundermanns Seilschaft, stammt aus Borna.

 

Ahoi: Du kennst die Musiker ja auch alle persönlich, durch viele Jahre hindurch. Wo bist du das erste Mal auf Monster gestoßen? Und wo das erste Mal auf Krumbiegel?

Ich hatte 2004 das bis dahin tote Musikmagazin „melodie & rhythmus" wiederbelebt und eines Tages stand plötzlich Monster bei uns im Büro. Ich selbst hatte ja Renft nicht so mitgekriegt, als sie verboten wurden, war ich acht Jahre alt. Aber ich schätze ihn und die heutigen Renftler sehr. Sebastian Krumbiegel traf ich erstmals 1993/94 zu einem Interview, dann immer mal wieder, wenn auch selten.

 

Ahoi: Solch ein Interviewbuch ist ja – meines Erachtens – auch immer wichtig, um Musikgeschichte einordnen zu können. Ganz besonders jetzt, im Zusammenstauchen der Branche, braucht es Menschen, die die Geschichten erhalten, damit sie nachvollziehbar für die Zuspät-Geborenen werden. Welcher der Interviewpartner deines Buches hat dich besonders überrascht und weswegen?

Das unterschreibe ich, was du da sagst. Ich finde es wichtig, dass die Geschichten erhalten bleiben, nicht nur die ostdeutschen. Der Hamburger Achim Reichel hat kürzlich eine spannende Autobiografie vorgelegt, in der er auch von seiner Tournee mit den Beatles schreibt. Die 15 Protagonisten in meinem Buch haben mich alle überrascht. Es ging mir ja in erster Linie um die Erfahrungen im vereinten Deutschland, weil alles davor schon oft erzählt wurde, auch von mir. Ich hatte ein wenig die Sorge, dass mir fast alle das Gleiche erzählen. Wendeknick, wieder aufrappeln, Nische finden - aber es sind 15 sehr unterschiedliche Interviews geworden. Sehr berührt haben mich die Interviews mit Dieter „Maschine" Birr, Sebastian Krumbiegel, Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang, Gundermann-Schlagzeugerin Tina Powileit und der aus Kambodscha stammende Sonny Thet von Bayon.

Ahoi: Einige der Interviewten durfte ich ja auch schon selber treffen – deshalb war ich gerade sehr erfreut über Reinhard Tesch (Metropol), dessen Song „Und ich seh´n mich nach dir (wie im Fieber)“ ich einst sehr mochte. Auch das POND-Urgestein Wolfgang „Paule“ Fuchs war etwas aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Nun sagst du, dass dies das vermutlich allerletzte Ostrock-Buch sei. Wie geht es weiter mit der Aufarbeitung unserer hiesigen Musik- und Rocktraditionen? Was denkst du?

Ja, dass der Metropol-Sänger heute in Florida lebt und wie Paule Fuchs immer wieder ein Stehaufmännchen bleibt, das ist auch höchst interessant. Im Grunde muss ich jedes Interview erwähnen. Die Geschichten um die Dramen bei Karat und Silly. Rockhaus, Falkenberg, Volkmann... Na ja, es stehen ja alle auf dem Cover. Der Titel „Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch" ist natürlich ironisch gemeint. Es ist weder klar, was ich noch so schreiben werde und wer noch mit einer ähnlichen Thematik an den Start geht. Vielleicht ja sogar du, Volly. Aber ich mache es dir dann nicht einfach, ich sitze gerade an der Fortsetzung „Das jetzt wirklich allerletzte Ostrockbuch". Ich hatte beim Schreiben des Erstlings gemerkt, dass längst nicht alles reinpasst, was mir wichtig erschien. Ansonsten hoffe ich natürlich, dass da - trotz meiner Buchtitel - noch etwas kommt.

 

Ahoi: Mit zum Beispiel Manuel Schmidt in Front von Stern Meißen agieren einige der alten Haudegen immer noch erhaltend und weitermusizierend. Wie werden solche Bands eigentlich außerhalb des engen ostdeutschen Rahmens heutzutage – 30 Jahre nach dem Knick – wahrgenommen? Gibt es eine Normalität?

Nein, die gibt es nicht. Der Aktionsradius vieler Ostrockbands beschränkt sich auf das ehemalige DDR-Gebiet. Und medial ist es gleich nochmal schwieriger. Aber es ist kein ostdeutsches Phänomen. Westkünstler wie Purple Schulz, Waggershausen und Ulla Meinecke haben auch nicht mehr die Aufmerksamkeit, die sie in den Achtzigern und Neunzigern einmal hatten. Und manchmal bleibt es eben auf einem regionalen Level. Nimm die Rodgau Monotones aus Hessen, die spielen in ihrem Bundesland und in Thüringen, wo man auch den Hessischen Rundfunk hörte. Aber zugegeben, manchmal ist es gemein, wie mit den Bands des Ostens umgegangen wird.

 

Ahoi: Du bist auch Chef des gesamtdeutschen Musikmagazins SCHALL. Ich stelle mir das gerade sehr schwierig vor. Dabei seid ihr wirklich flächig etabliert. Wird es wieder eine Rockraserei mit Megakonzerten geben irgendwann? Was glaubst du als „Experte“?

Das SCHALL-Magazin ist jetzt sechs Jahre alt und es war noch nie einfach. Dahinter steckt ja ein Miniverlag und insofern gefährdet jeder Sturm die Existenz. Seit einem Dreivierteljahr müssen wir ohne Konzertveranstalter-Anzeigen auskommen. Es ist schwer, aber wir haben viele treue Leser. Ich möchte mich nicht als Experte bezeichnen, aber meine persönliche Meinung ist, dass es irgendwann auch wieder Megakonzerte gibt. Nach jeder Katastrophe, jedem Krieg und jeder Krise gab es wieder eine Normalität. Vielleicht zögerlich, aber es gab sie. Ich bin da sehr optimistisch.

Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch
Verlag neues leben


Der zweite Teil, „Das jetzt wirklich allerletzte Ostrockbuch“, erscheint am 21. Mai 2021

SCHALL. Musikmagazin
www.schallmagazin.de

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