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Jeden Tag suizidieren sich alleine in Deutschland rund 25 Menschen.

Gespräch mit der Autorin und Wissenschaftlerin Dr. Katherina Heinrichs

Katharina Heinrichs
Frau Dr. Katharina Heinrichs bricht Tabus © Hilberg Heinrichs

Suizid. Ein tabubehaftetes Thema, welches jedoch so viele Menschen betrifft. Schließlich hängen an jedem der rund 25 täglichen Suizide in Deutschland Familien, Freunde, Arbeitskollegen etc. In Leipzig findet zu diesem Thema und einem neuen Buch „Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst“, gemeinsam mit dem VEID e.V. Eine Veranstaltung statt. Ahoi-Redakteur Volly Tanner sprach mit Dr. Katherina Heinrichs, die gemeinsam mit Prof. Dr. Vögele die Herausgeberschaft inne hat.

 

Ahoi: Guten Tag, Frau Dr. Katherina Heinrichs. Sie haben gerade mit Prof. Dr. Jörg Vögele gemeinsam das Buch „Sein oder Nichtsein - Suizid in Wissenschaft und Kunst" herausgebracht. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Vögele?

Katherina Heinrichs: Hallo und vielen Dank für das Gespräch. Jörg lernte ich auf dem Büroflur kennen. Unsere jeweiligen Institute an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf waren gerade in ein neues Gebäude gezogen. Somit saßen wir auf einem Flur und liefen uns immer wieder über den Weg. Bei einem Kaffee fragte er mich, ob ich ein Kapitel zu seinem Buch „Tore zur Welt“ beitragen möchte. Dabei geht es um Hafenstädte, und als Halb-Argentinierin widmete ich mich der Geburt des Tango in den Hafenvierteln am Río de la Plata. Danach schrieb ich noch ein weiteres Kapitel für das Buch „Dancing in the Dark“, in dem ich mich der Epilepsia saltatoria, auch Tanzwut genannt, zuwandte.

 

Ahoi: Und welcher war der ausschlaggebende Moment für gerade dieses Buch zum Thema „Suizid in Wissenschaft und Kunst"?

Katherina Heinrichs: Seit über einem Jahrzehnt arbeite ich für Asp Spreng, einem bedeutsamen Musiker und Autor in der Gothic-Szene. Durch ihn habe ich wiederum Holger Much kennengelernt, der mich um das Lektorat seiner Gedichtsammlung bat, die unter dem Titel „Das Licht im Dunkeln“ bei Edition Outbird erschien. So fielen einige Puzzlestücke an die richtigen Plätze, und ich fragte Jörg, der sich viel mit den Themen Tod und Musik beschäftigt, ob er mit mir dieses Projekt wagen würde. Der genannte Verlag war auch schnell an Bord, Holger kreierte das Cover – es passte plötzlich alles. Und das einige Jahre nachdem ich selbst in der Forschung rund um Depression und Suizidprävention gearbeitet hatte. Aber das Thema ließ mich nicht los.

 

Ahoi: Im Buch sind 23 Beiträge versammelt, von wem denn eigentlich und woher kamen die Beitragenden?

Katherina Heinrichs: Bei diesem Herausgeberwerk handelt es sich um einen Hybrid, der wissenschaftliche und künstlerische Beiträge umfasst und auch Betroffenen eine Stimme gibt. Gerade Jörg konnte in der Wissenschaftsgemeinschaft einige Beitragende zusammenbringen, wir selbst schrieben natürlich auch einiges, und ich ging vornehmlich auf die Akquise-Jagd unter den künstlerisch Tätigen. Manche kannte ich, wie Michael Sele oder wie gesagt Asp Spreng, andere kontaktierte ich extra, wie zum Beispiel die wunderbare Luci van Org.

 

Ahoi: 2020 bekamen Sie den Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention. Was war denn das Thema? Und worüber haben Sie konkret geschrieben? Kann man die Dissertation eigentlich nachlesen und wenn ja wo?

Katherina Heinrichs: Die Dissertation trägt den anschmiegsamen Titel „Psychosoziale Arbeitsbedingungen und Asthma am Arbeitsplatz: eine Mixed-Methods-Studie zu Selbstmanagement, Morbidität und subjektiver Prognose der Erwerbsfähigkeit“ und ist öffentlich zugänglich, auch online. Es ging darum herauszufinden, welche Arbeitsbedingungen es Menschen mit Asthma leichter oder schwerer machen, am Arbeitsplatz mit ihrer Erkrankung umgehen zu können. Ich durfte Interviews mit Betroffenen führen, aus den Ergebnissen einen Fragebogen konstruieren und in einer großen Befragung anwenden und die Ergebnisse dann auch noch mit Fachleuten diskutieren. Eine spannende Studie mit vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen Methoden. Die Ergebnisse führten zu einem weiteren Projektantrag, die Gelder wurden bewilligt, und bald wird auf Basis meiner Ergebnisse ein Trainingsprogramm für Menschen mit Asthma, die sich gerade in Reha befinden, entwickelt, damit sie befähigt werden, im Arbeitskontext für die Bedingungen einzustehen, die sie brauchen, um sich auch bei der Arbeit um ihre Symptome und deren Vorbeugung kümmern zu können. Ich freue mich außerordentlich, dass meine Arbeit so schnell einen praktischen Nutzen nach sich ziehen wird. Das ist ein großes Geschenk, hat aber auch Mühe gekostet.

 

Ahoi: Vor einigen Wochen durften wir an dieser Stelle Beppo Küster interviewen, der sich für einen geregelten Anspruch auf assistierten Suizid stark macht. Wie ist denn Ihre Meinung zu diesem Thema?

Katherina Heinrichs: Sagen wir es mal so: Die Themenwahl ließ ich allen Beitragenden komplett frei. Ich wollte einfach sehen, was im Buch landen wird. Klar, ich selbst habe mir meine Themen gesucht, aber es gab eins, wirklich nur eins, das ich unbedingt im Buch haben wollte, bei dem ich mich selbst aber nicht informiert genug fühlte, um es mit der Tiefe zu vermitteln, die das Thema verdient. Und das ist das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, wie es das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 festgelegt hat. Das war die einzige Kaltakquise für das Buch, die ich im wissenschaftlichen Sektor gewagt habe. Prof. Dr. Rosenau aus Halle musste in keiner Weise überredet werden und schrieb einen eindrücklichen Text über das Sterben als Menschenrecht. Ich stehe mit meiner persönlichen Meinung voll hinter diesem Kapitel.

 

Ahoi: Am 10. September stellen Sie Ihr Buch beim VEID e.V. in Leipzig vor. Was ist das denn für ein Verein und wo findet denn ganz konkret die Veranstaltung wann statt?

Katherina Heinrichs: Der VEID e.V. bietet Begleitung für Familien, in denen ein Kind gestorben ist. Das muss natürlich nicht immer, kann aber auch mit Suizid zu tun haben. Luci van Org ist Schirmfrau des Vereins, und da sie auch eine Kurzgeschichte zu unserem Buch beigetragen hat, lag diese Verbindung nahe. Der Verein leistet eine wichtige Arbeit, wobei das Thema „tote Kinder“ ähnlich tabuisiert ist wie das Thema Suizid. Im Übrigen spenden Jörg Vögele und ich unsere Tantiemen unter anderem diesem Verein. Der gleiche Teil geht an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

 

Ahoi: Die Veranstaltung ist ja keine reine Lesung. Das würde der Thematik ja auch nicht gerecht werden. Wie läuft denn die Veranstaltung ab? Wer ist dabei?

Katherina Heinrichs: Eine Lesung bietet sich bei wissenschaftlichen Beiträgen nicht an. Wir können uns nicht hinsetzen und unsere Daten und Fakten vorlesen, das wird kein spannendes Format, fürchte ich. Üblicherweise, zum Beispiel auf wissenschaftlichen Konferenzen, arbeiten wir mit Vorträgen. Daher bereite ich eine Präsentation samt Vortrag vor, um einmal durchs Buch zu führen und dem Publikum zu zeigen, was es erwarten kann von unserem Werk. Es finden sich ja zum Beispiel auch Bilderreihen darin oder Nachdrucke von journalistischen Artikeln, ganz unterschiedlich. Meine Aufgabe ist es, das Konzept des Buches zu verdeutlichen. Natürlich werde ich auch auf genauere Inhalte des Buches eingehen – aber ohne zu viel zu verraten. Die Leute sollen das Buch ja trotzdem noch kaufen, hihi … Aber bei der Veranstaltung wird es auch einen Teil mit Lesungen von Luci van Org und Benjamin Schmidt geben. Außerdem werden zugunsten des VEID e. V. Kunstwerke von Holger Much und Jea Pics versteigert. Ein wichtiger Abend, passenderweise am Welttag der Suizidprävention. Denn das Buch ist ja selbst eine kleine Maßnahme, um das Tabu zu brechen und Prävention zu leisten.

 

Ahoi: Suizid, gerade auch selbst verantworteter (aus der Kantschen Sicht der Mündigkeit) ist ein kaum bearbeitetes Thema in der Öffentlichkeit. Woran liegt dies, Ihrer Meinung nach?

Katherina Heinrichs: Das Thema Suizid ist in unserer Kultur, die mit dem Thema Tod insgesamt recht verklemmt umgeht, wie gesagt ein Tabu. In den Nachrichten hören wir die jährlichen Zahlen der Drogentoten, der Verkehrstoten, aber nicht der Suizidtoten, die um einiges höher liegt. Jeden Tag suizidieren sich alleine in Deutschland rund 25 Menschen. Weltweit sind es 15 Personen alle zehn Minuten. Aber es wird nicht darüber geredet. Wenn überhaupt, dann liest man mal etwas über Jugendliche, die sich aus Liebeskummer suizidiert haben, oder über eine prominente Person, die sich das Leben weggenommen hat. Fakt ist, dass die Suizidrate gerade unter alten Menschen am höchsten ist. Aber wer denkt schon gerne an die Alten, die womöglich schwer krank und/oder vereinsamt sind und diesen Weg gehen? Ich bin froh, dass wir auch einen Beitrag zum Thema Alterssuizide im Buch haben, denn diese bringen wenig Romantik und Möglichkeiten zur Ästhetisierung mit. Warum reden wir nicht darüber? Weil es den meisten Menschen … ich weiß nicht … zu gruselig ist? Zu traurig? Besonders die Betroffenen-Berichte im Buch lassen einen durchaus mal schlucken. Es geht einem schon nahe. Am meisten berührt und bedrückt hat mich persönlich das Kapitel über verfolgte Mediziner*innen im Nationalsozialismus, die sich in den Tod geflüchtet haben. Da musste selbst ich beim Lesen immer wieder eine Pause einlegen, weil es mir zu sehr an die Nieren ging. Andere Facetten des Suizids, zum Beispiel die Möglichkeiten der Suizidprävention, finde ich unfassbar spannend. Wenn ich mit Leuten darüber rede, merke ich allerdings schnell, dass die zumachen. Sie wollen nichts davon hören. Aber in der Gothic-Szene ist das anders. Die Gruftis teilen meistens meine Faszination diesem Thema gegenüber, fragen nach, wollen immer mehr wissen. Gleichzeitig bilden sie eine Hochrisikogruppe für Depressivität und Suizidalität; diese beiden Faktoren hängen sehr eng zusammen. Daher richtet sich das Buch, das ja auch bei einem Szene-Verlag erscheint, ebenfalls, aber nicht nur, an die Angehörigen der Gothic-Szene.

 

Ahoi: Gehen andere Kulturkreise eigentlich anders mit Suizid um? In Japan gab es ja sehr lange eine Tradition des selbstgewählten Ausscheidens aus dem Leben aufgrund von „Ehren"-Fragen. Gibt es Beispiele?

Katherina Heinrichs: Klar, wie ich eben ausgeführt habe, gibt es ja schon Unterschiede innerhalb unserer eigenen Kultur. Auch im Zeitverlauf hat sich die Sicht auf den Suizid gewandelt. Im Buch haben wir zum Beispiel einen Beitrag zur Perspektive der antiken Philosophen auf den Suizid. Und in der Tat widmet sich ein Kapitel dem Seppuku, also genau dieser japanischen Variante des ehrenvollen Todes, der durch die eigene Hand herbeigeführt wird. Manche Themen bleiben auch unbehandelt, zum Beispiel die Kamikaze-Flieger, wo wir schon bei Japan sind, oder die Selbstmord-Attentate. Auch Suizidalität in der DDR hätte ich gerne näher beleuchtet. Das Thema Suizid ist so facettenreich und vielschichtig, dass man es in einem Buch nicht umfassend darstellen kann. Aber genau deswegen haben wir, Jörg Vögele und ich, das Werk so breit angelegt konzipiert und verschiedene Sichtweisen auf das Thema Suizid gesammelt.

 

Ahoi: Danke, Frau Dr. Heinrichs für Ihre Zeit und Ihr Engagement.

Katherina Heinrichs: Gerne. Es war und ist mir eine Freude.

Das Buch „Sein oder Nichtsein - Suizid in Wissenschaft und Kunst" bei der Edition Outbird:

Dr. Katherina Heinrichs & Prof. Dr. Jörg Vögele | Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst › Edition Outbird Verlagsshop

 

Dr. Katherina Heinrichs im Netz:

Dr. Katherina Heinrichs: Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft - Charité – Universitätsmedizin Berlin (charite.de)

 

Der VEID e. V. Im Netz:

Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e.V. (veid.de)

 

Die Veranstaltung im Netz:

„Sein oder Nichtsein“ – Book Release und Lesung | 10. 09. 2022 | VEID e. V. Leipzig (outbird.net)

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