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Meine Kleidung ist im Durchschnitt 120 Jahre alt

Gespräch mit dem Vintage-Enthusiasten Paul Hentschel von Gilgenheimb

Nachhaltigkeit rufen und dadurch einfach nur immer neue Dinge verkaufen, scheint derzeit gerne apostierter Style zu sein. Das nennt sich dann auch Green-Washing und bringt den geneigten Kulturerhalter oftmals zum verzweifeln. Auf der Suche nach der echten Nachhaltigkeit, nach lange haltenden Produkten und Dingen, kam Ahoi-Redakteur Volly Tanner über den geliebten, orangenen Handmixer RG8 aus DDR-Produktion und Musik von Johann Sebastian Bach zu Paul Hentschel von Gilgenheimb, den im Leipziger Waldstraßenviertel und auch darüber hinaus jedermann kennt. Tanner jedoch fragte nach:

Paul Hentschel von Gilgenheimb im Gohliser Schlösschen © Jan Ziehms

Ahoi: Guten Tag, lieber Paul Hentschel von Gilgenheimb. Aufmerksame Menschen haben dich in Leipzig schon oft gesehen, schließlich fällst du durch deinen Style doch auch auf. Wie würdest du selber deinen Style beschreiben?

von Gilgenheimb: Hallo Volly. Ich weiß tatsächlich nicht genau, wie ich meinen Style beschreiben soll. In erster Linie repräsentiert er mich selbst. Ich selbst beschreibe ihn gerne als Stil der Großindustriellen in der Zeit der Belle Époque. Und ich denke, dass es das auch am Besten trifft.

 

Ahoi: Und was bezweckst du mit deinem Modeauftreten?

von Gilgenheimb: Einen wirklichen Zweck gibt es nicht. Ich kleide mich so, weil es mir selbst gefällt, weil ich mich in der Kleidung wohler fühle. Der wichtigste Punkt ist mir dabei die Nachhaltigkeit. Die Kleidung besteht zumeist aus reinem Tuch oder Wolle. Kunststoffe sind darin nicht zu finden. Meine Kleidung ist im Durchschnitt rund 120 Jahre alt und befindet sich, wenn ich sie kaufe, fast immer in einem perfekten Zustand. Die Stoffe von früher halten nicht nur länger, sondern wärmen mich in der aktuellen, kalten Winterzeit auch deutlich besser.

 

Ahoi: Das bedeutet ja, dass du nur Originale trägst. Wo bekommst du diese denn her?

von Gilgenheimb: Die meisten meiner Kleidungsstücke stammen von Flohmärkten. Dort habe ich mittlerweile einige Händler kennengelernt, welche auch gezielt nach bestimmten Kleidungsstücken für mich suchen. Fündig werde ich aber auch im Internet. Ebay zum Beispiel ist eine gute Adresse.

 

Ahoi: Gibt es so etwas wie eine Szene in Leipzig und in Deutschland, Europa, der Welt?

von Gilgenheimb: Als Szene würde ich es nicht gerade bezeichnen. Aber es gibt einige, nennen wir sie mal Vintage-Enthusiasten, welche sich im Internet oder auf verschiedenen Veranstaltungen zusammenfinden und austauschen. Ich selbst habe zusammen mit einem belgischen Freund auf Facebook die Gruppe „Elegance of the Past“ gegründet, welche seit 2016 als Gruppe für den internationalen Austausch von Vintage-Enthusiasten auf Facebook dient. Die Gruppe hat mittlerweile 2.750 Mitglieder. In Leipzig gibt es auch ein paar Menschen, welche einen historischen Kleidergeschmack haben. Aus den Zeiten von 1800 - 1960 ist da alles dabei. Und jeder sieht auf seine eigene Weise gut damit aus, sticht doch jeder Einzelne von ihnen aus der Masse heraus.

 

Ahoi: Wie regieren Menschen im Regelfall auf dich?

von Gilgenheimb: Das ist ganz unterschiedlich. Ich wurde schon einmal gefragt, ob denn schon wieder Fasching wäre. Manchmal werde ich gefragt, ob eine Veranstaltung stattfinden würde oder ob ich Schauspieler bin. Grundsätzlich aber kommt mein Stil sehr gut bei den meisten Leuten an. Ich erhalte ziemlich oft Komplimente dafür oder werde gefragt, wo man denn noch solche, tolle Kleidung herbekommt. Mit einigen Leuten komme ich sogar richtig gut ins Gespräch.

 

Ahoi: Dein Style impliziert eine gewisse Affinität zum Lebensstil des Anfangs des letzten Jahrhunderts. Wie konsequent lebst du diesen aus? Was ist dieser Stil für dich? Und wie manifestiert er sich? Welche Sehnsucht trägt dich?

von Gilgenheimb: Ich lebe diesen Stil 24/7. Alleine schon meine Wohnung ist dementsprechend ausgesucht und auch eingerichtet. Sie besitzt einen ganz typischen, gründerzeitlichen Grundriss. Hohe Stuckdecken, Fischgrätenparkett, Durchgangstüren und hohe Kachelöfen komplettieren sie. Ebenso ist sie größtenteils im Jugendstil und ein wenig im Stile der Gründerzeit eingerichtet. Alles auch Originale aus der Zeit der Jahrhundertwende. Ich finde die Ästhetik eben jener Wohnungseinrichtung, der Möbelstücke, der Kunst und der Jugendstil-Objekte, wie z.B. die von WMF aus der Zeit um 1906, unübertroffen. Ausgenommen von der antiken Einrichtung sind die Bäder und die Küche. Dort findet man das Neuste vom Neuesten, was die Technik zu bieten hat.

Ich veranstalte auch mindestens einmal im Monat einen Herrenabend in meinem Salon, wie es sich früher für die gehobene Gesellschaft gehört hat. Allerdings setze ich diese Zusammenkünfte aufgrund der Corona-Pandemie aktuell aus. Was mich dabei antreibt ist die Sehnsucht nach der Ästhetik und Eleganz der Zeit. Von der Kleidung bis zur Architektur sah einfach alles um Welten schöner aus, als heute. Heute werden neue Gebäude gebaut, welche glatte Fassaden und große Fenster haben. Sie sehen aus wie große, charakterlose Würfel, welche man so in jeder anderen Stadt wiederfinden kann.

 

Ahoi: Faszinierend, dass du ja dahingegen im normalen Arbeitsleben etwas ganz Anderes machst. Was machst du denn und wie verbinden sich die Enden deiner Persönlichkeit zwischen Mode und Arbeitswelt?

von Gilgenheimb: Ich bin Informatiker. Meine Welt auf Arbeit besteht aus Servervirtualisierungen, Netzwerken, Systemadministration und IT Sicherheit. Ein absoluter Kontrast zu meinem Erscheinungsbild. Aber genau diesen Kontrast liebe ich. Schon in meiner frühen Kindheit hatte ich ein großes Interesse an Computern und an Geschichte entwickelt. Und Beides hat sich immer weiter vertieft.

 

Ahoi: Was sagen die Damen?

von Gilgenheimb: Ach, im Grunde sagen die Damen das Gleiche wie die Herren. Der einen gefällt es, der anderen nicht.

 

Ahoi: Wünschst du dir eigentlich mehr Menschen, die sich auf die Werte dieser Zeit besinnen und Deinen Modegeschmack mitleben wollen oder ist das völlig egal für dich?

von Gilgenheimb: Bei der Frage muss ich etwas schmunzeln. Wenn noch mehr Menschen diesen Stil, auch mit originaler Kleidung leben würden, würde ja weniger für mich übrig bleiben. Spaß beiseite. Ich würde mich natürlich darüber freuen, wenn mehr Menschen einen historischen Stil tragen würden. Ich werde auch oft gefragt, wie man an Kleidung kommt oder worauf man achten muss. Dabei erinnere ich mich an meine Anfangszeit zurück, als ich mich dazu entschieden hatte, diesen Stil zu tragen. Es war wirklich nicht einfach für mich. Ich war damals 17 und kannte niemanden, der mich hätte unterstützen können. Ich wusste nicht, wie ich an originale Kleidung kommen soll. Aus diesem Grund helfe ich jedem gerne, der damit anfangen möchte.

 

Ahoi: Aus Deiner Sicht auf die Jetztwelt: Was rätst Du den Menschen in der digitalen Raserei?

von Gilgenheimb: Tja, lieber Volly. Ich bin ja leider auch ein Teil dieser digitalen Raserei. Ich versuche, mir immer mal wieder eine bildschirmfreie Zeit zu genehmigen. Ich kann jedem nur empfehlen, mehr Zeit in der Natur zu verbringen. Um die Ruhe und Schönheit zu genießen.

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