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Niederländische Kunstexpertin und Autorin

Fokussieren schärft unsere Aufmerksamkeit

Niederländische Kunstexpertin und Autorin Wieteke van Zeil im Ahoi-Interview © Jean-Pierre Jans

Was tun in einer Welt, in der wir ständig neuen visuellen Reizen ausgesetzt sind? Die niederländische Autorin Wieteke van Zeil hat einen Rat für uns: „Sieh hin!“ – und zwar ganz genau! Wir haben sie hier in Leipzig zum Interview getroffen.

 

Wieteke, in deinem Buch zeigst du uns, wie wir uns fokussieren und ganz genau hinschauen können. Wie kamst du auf die Idee?
Ich habe schon länger für eine Zeitung geschrieben und nach meinem Studium für Museen gearbeitet, als mir aufgefallen ist, dass ich alles sehen möchte, wenn ich zu einer Ausstellung gehe. Aber das kann überfordernd sein. Man wird müde und weiß am Schluss überhaupt nicht mehr, was man eigentlich gesehen hat. Je mehr du siehst, desto weniger kannst du dir merken. Ich gehe einmal in der Woche zum Museum. Das wurde zum Problem für mich und ich wollte es schaffen, mich besser zu fokussieren und auch den Besuch mehr zu genießen. Also machte ich Fotos von kleinen Details. Es wurde ein Hobby. Und dann habe ich bei meiner Zeitung gefragt, ob ich darüber schreiben kann. So kam es dann zu meinem Buch.

Was hat dich an den Details so fasziniert?
Zum einen hilft es uns, einen besseren Fokus zu bekommen. Zum anderen kannst du mit den Details einen tollen Zugang zu den Kunstwerken finden. Wichtig ist es dabei, einfach zu schauen und noch nicht zu lesen, um was es bei dem Kunstwerk geht. Ein Detail kann dir helfen, eine Verbindung zu dem Kunstwerk aufzubauen, dein Interesse wecken. Und es weckt deine Neugierde.

Ist es gerade heute wichtig, den Fokus wieder etwas zu schärfen?
Wir sehen so viel heutzutage. Es ist nicht möglich, sich alles zu merken. Also sind wir darauf konditioniert, die Bilder vor unseren Augen nur noch wegzuswipen. Wir können uns nicht konzentrieren, weil wir einfach zu viel sehen. Wir müssen das also etwas mehr steuern – und das können wir lernen. Künstler hatten schon immer eine große Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten. Für Dinge, die wir nicht bemerken. Wenn wir diese beachten, können wir zurück zu einem guten Fokus kommen, aufmerksamer sein.

In deinem Buch „Sieh hin!“ gibst du Tipps, wie uns das gelingt ...
Genau, einer davon ist „Gut sehen beginnt mit ignorieren“. Wenn du ein Museum besuchst, kannst du nicht alles sehen. Wenn du durch eine belebte Straße läufst, ist das auch so. Dein Gehirn priorisiert ganz genau und merkt sich nur die überlebenswichtigen Dinge. Es ist sehr effizient. Und wenn wir diese Effizienz nutzen, können wir einen Museums-Besuch sehr viel mehr genießen. Also empfehle ich, in einem Raum nur ein Bild auszuwählen und dieses einfach etwas länger und genauer anzuschauen. Es fällt einem viel mehr auf und man hat sehr viel mehr Freude damit.

Das werde ich ausprobieren! Du sammelst schon seit sieben Jahren Details von Kunstwerken. Ist dir eines besonders im Gedächtnis geblieben?
Da gibt es natürlich viele. Eines ist die „Thronende Madonna mit Kind“ von Agnolo Gaddi. Es handelt sich dabei um ein Altar-Kunstwerk aus dem Mittelalter. Marias Robe ist mit filigranen Motiven verziert – aufgetupft mit Gold. Aber warum? Dazu muss man wissen, dass das Kunstwerk nicht für ein Museum gestaltet wurde, sondern für eine Kirche oder einen Hausaltar. Damals wurde das Kunstwerk nur von Kerzenlicht erleuchtet und die goldenen Punkte gaben im flackernden Licht das Gefühl, dass Maria am Leben und bei dir ist. Dieser Trick machte die Kunst lebendig. Erkenntnisse wie diese halfen mir, Zusammenhänge zu verstehen, die es heute gar nicht mehr gibt.

 

Wieteke van Zeil, geboren 1973 in Den Haag ist Kunsthistorikerin und Kulturjournalistin, arbeitet in verschiedenen Museen und schreibt für die niederländische Zeitung „de Volkskrant“ sowie auf ihrem Instagram-Kanal „artpophistory“. Im Oktober erscheint der Nachfolge-Band „Sieh mehr! Wie Kunst unser Denken bereichert.“

Infos zum aktuellen Buch: „Sieh hin! Ein offener Blick auf die Kunst“ von Wieteke van Zeil ist im E. A. Seemann Verlag erschienen (ISBN 978-3-86502-470-1), Peris: 26,00 Euro

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