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"Die Wut, die bleibt" von Mareike Fallwickl

Es muss alles stimmen, bis am Ende nichts mehr stimmt

„Gibt es noch Salz?“ Wer diese Frage beim Abendessen gestellt hat, erfährt man nicht. Aber alle am Tisch wissen, dass sie an Helene gerichtet ist - schließlich hat sie gekocht. Helene, Mutter von drei Kindern, steht auf und stürzt sich kommentarlos vom Balkon in den Tod. Damit verliert ihre Familie schlagartig alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit. Zurück bleiben Lola, Helenes Tochter aus einer früheren Beziehung, und Johannes, Ehemann und Vater der Söhne Maxi, 5 Jahre, und Lucius, 18 Monate. Johannes ist ein attraktiver Karrieretyp, der ständig arbeitet. Auch Sarah, die schon als Kind Helenes beste Freundin war, bleibt zurück. Sie ist eine erfolgreiche Krimiautorin und Single. Je nachdem, wie laut ihre biologische Uhr gerade tickte, hat sie Helene um Ihre Familie bemitleidet oder beneidet.

In Die Wut, die bleibt erzählt Mareike Fallwickl mit einem feministischen Blick, was die Corona-Krise mit Frauen gemacht hat und wie die traditionellen Erwartungen, Zwänge, Rollen- und Körperbilder Frauen belasten. Sie zeigt aber auch, wie sehr sich Frauenleben in drei Generationen verändert haben: Helenes Mutter, eine wortkarge Frau mit acht Geschwistern, wuchs mit Arbeit und Schlägen auf einem Bergbauernhof auf. Die Töchter Helene und Sarah revoltierten gegen ihre Eltern, schwenkten brennende BHs und hätten bei einer Revolution mitgemacht, wenn es in ihrem Leben eine gegeben hätte. Helene, eine angehende Filmemacherin, sagt: „Wir werden nicht wie unsere Mütter, Sarah, wir machen unser eigenes Ding.“ Mit der Enkelin Lola, leben die alleinerziehende Helene und ihre Freundin Sarah in einer WG, sie lehren Lola Essen, Laufen, Radfahren, Schwimmen und Lesen. Als Helene ihren Traummann Johannes heiratet, ist ihre Karriere vorbei. Ihre Söhne Maxi und Lucius kommen zur Welt und fressen ihre ganze Energie. Helene sitzt also in der Mutterfalle, während Lola ihr Wissen jetzt gegen ihre Mutter verwendet. Sarah hingegen wird als Autorin zur „öffentlichen Person“, die auf Bühnen steht und ständig betrachtet und eingeordnet wird. Sie hat andere Probleme: „Es ist schwer genug, überhaupt so weit zu kommen, dass Magazine und Blogs über einen berichten wollen, dass man eingeladen wird zu Veranstaltungen und Lesungen. Da ist man in der Bringschuld. Ein Lächeln muss man zeigen, ein ansprechendes Outfit, einen attraktiven Körper, den jeder gerne anschauen möchte. Das ist der Deal.“

Mit ihrem Tod hat Helene sich den Zumutungen des Mutterseins radikal entzogen. Die Lücke, die sie hinterlässt, müssen Sarah und Lola schließen. Sarah, die sich ihre Unabhängigkeit mit Fleiß und Ehrgeiz hart erarbeitet hat, leidet permanent unter der Angst, jemand könne merken, wie schwach sie ist. Sie ist ständig auf Diät, sündigt heimlich. Überraschenderweise geht sie nach Helenes Tod in der Mutterrolle auf und widerspricht nicht, als Johannes sein altes Leben wieder aufnimmt und ihr seine Kinder überlässt. Dafür vernachlässigt sie jetzt sich – und ihren jungen Lover. Lola war vor dem ersten Lockdown ein Mädchen, das gefallen wollte. Beide Frauen leiden unter dem wachsenden Zwang zur Selbstperfektionierung, den Erwartungen an sich selbst, den Erwartungen an andere und an dem Glauben, dass andere Leute sehr hohe Erwartungen an sie haben. Lola kanalisiert ihre Wut durch Kampfsport, Sarah setzt ihren Lover an die Luft. Aus Anpassung wird Selbstermächtigung. Ob das beide Frauen auf Dauer glücklich macht, ist eine offene Frage. Mareike Fallwickl hat die drei Frauenschicksale meisterhaft zu einem aufwühlenden und hellsichtigen Roman verwoben, in dem vor allem ältere Leser:innen sehr viel über die Welt und Sprache der „Generation Y“ erfahren.

Mareike Fallwickl: "Die Wut, die bleibt“, Rowohlt Hundert Augen | 2022 ISBN 978-3-498-00296-1 | Gebunden | 384 Seiten | 22 €

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