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Kolumne

Eine Seite Vernunft

Der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung macht sich in diesem Monat in der Ahoi Gedanken zum Thema Gemeinwohl. In seinem Text plädiert er für die Einsicht, dass doch viele Wege zum Ziel führen und dass eben auch viele Antworten zu hören sein müssen.

Burkhard Jung
© Stadt Leipzig

Gemeinwohl geht uns alle etwas an

Manchmal scheint es, als stünden Gemeinwohl und Einzelwohl konträr zueinander. Da klagen Menschen etwa gegen Behinderten- oder Kindereinrichtungen wegen Ruhestörung. Da befürworten Menschen erneuerbare Energien und Windkraft – aber ein Windrad in der eigenen Nachbarschaft wird mit allen Kräften zu verhindern versucht. In der Corona-Pandemie wurden mit dem Hinweis auf das Gemeinwohl nicht nur Wirtschaftshilfen gewährt, sondern auch gravierende Einschränkungen von Grundrechten begründet. Es ist natürlich kein Wunder, dass in der Krise die Gemeinwohlfragen nach vorn rücken und die bisherigen Formen des sozialen Miteinanders auf die Probe gestellt werden. Dabei sind leider auch stabil verankerte Gemeinwohlwerte infrage gestellt und für Partikularinteressen missbraucht worden. Hier gilt es, wachsam zu sein, um die eigentlichen Gedanken des Gemeinwohls nicht aufs Spiel zu setzen.

Ich halte es für ein fatales Signal, wenn Gemeinwohl und das Wohl des Einzelnen gegeneinander ausgespielt werden. Gemeinwohl ist nicht der Widerpart des Einzelwohls, sondern eher sein „Erfüllungsgehilfe“. Einfach gesagt: Ohne ein „Wir“ kann es kein „Ich“ geben. Gemeinwohl geht uns also alle etwas an, schafft es doch die Grundlagen sowohl für unser Zusammenleben als auch für die eigene Entfaltung. Dabei geht es beim Gemeinwohl nicht nur um die großen Fragen unserer Gesellschaft, sondern in erster Linie um das tägliche Miteinander und die Achtsamkeit für die Schwächeren der Gesellschaft. Jüngere haben eingeschränkten Unterricht in Kauf genommen oder auf Partys verzichtet, um Risiken für Ältere zu reduzieren. Gleichzeitig haben die Kinderrechte in der Pandemie einen anderen Stellenwert erhalten; der lange fällige Einzug ins Grundgesetz soll endlich vollzogen werden.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, aus der Krise zu lernen und dieses Wissen zu nutzen, um Gemeinwohl mutig weiterzudenken. Anstand vorleben, eine Haltung finden, Solidarität leben … es gibt viele Antworten, aber ganz sicher keine Patentrezepte.

Burkhard Jung ist seit 2006 Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und war seit Juni 2019 Präsident des Deutschen Städtetags. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.

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