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Kolumne

Eine Seite Vernunft

Was kann ich noch glauben und wem? Wie verlässlich ist Wissen? Mit der Corona-Krise geht eine Glaubwürdigkeitskrise einher. Die Skepsis gegenüber politisch Handelnden, aber auch gegenüber Wissenschaftlern und was Journalisten berichten, ist gewachsen. Wie gehen wir mit der Unsicherheit um? Das fragt Ine Dippmann, Vorsitzende des DJV, dem Deutschen Journalistenverband Sachsen.

© Jürgen Männel

Vertrauen kann halt geben

Donald Trump mit Corona infiziert“ – die Meldung ruft bei mir einen Reflex hervor: Das glaube ich nicht. Das Einzige, was ich diesem Präsidenten abnehme, ist, dass er es ernst meint, wenn er andere Leute beschimpft, verlacht, verleumdet. Und hey – in der TV-Serie „Scandal“ kann man ja sehen, wie in Washington auf politischem Parkett getrickst wird, um Wahlen zu gewinnen. Das wären die Argumente, die ich am Stammtisch vortragen würde.

Argumente, deren Qualität fragwürdig ist. Bin ich überhaupt bereit, irgendwelche positiven Nachrichten als Fakt zu akzeptieren, die über Trump berichtet werden? Selektive Wahrnehmung kann einem üble Tricks spielen. Und warum sollte eine fiktionale Serie eine gute Bezugsgröße sein, um einzuschätzen, wie Wahlkampfteams in den USA arbeiten?

„Das glaube ich nicht“, wie oft habe ich das gehört und gesagt, wenn ich in den letzten Monaten in der Krise gestritten habe: über Masken, über die Gefährlichkeit des Virus, über die Berichterstattung.

Vertrauen kann in Zeiten größter Unsicherheit Halt geben und hat sich doch als zerbrechlich erwiesen. Wenn Politiker durchgreifen und Verbote erlassen, ohne dass es dafür wissenschaftlich nachvollziehbare Gründe gibt, leidet das Vertrauen all jener, denen nichts an autoritärer Politik liegt. Die umfangreichen Ausgangsverbote im Frühling, gesperrte Spielplätze und nicht zuletzt das Besuchsverbot für Schwerkranke und Sterbende gehören für mich dazu.

Wir Journalistinnen und Journalisten haben in solchen Zeiten eine besondere Verantwortung. „Wir wissen es nicht. Wir wissen noch nicht genug.“ Immer wieder fielen diese Sätze in Interviews mit Ärzten, Virologen, Epidemiologen. Unsicherheit auszuhalten, überfordert manchen. Journalistinnen und Journalisten nicht ausgenommen. Es muss doch eine Erklärung geben! Und wo es die noch nicht gab, füllte sich das Vakuum: mit Informationshäppchen noch ungeprüfter Studien, Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien.

„Was kann ich wissen?“, fragte Immanuel Kant vor rund 250 Jahren in seiner „Kritik der reinen Vernunft“. Die Krise hat das Potenzial für eine Lektion in Erkenntnistheorie: Wie kommt Wissen zustande? Und wie meine Überzeugung? Welche Zweifel sind angebracht? 2020 ist ein gutes Jahr, um Selbstreflexion zu üben und im Austausch unterschiedlicher Ansichten die eigene Argumentationsfähigkeit zu trainieren. Dank Kant wissend, dass jeder nur erkennt, was er zu erkennen vermag, und dass das Erkannte nicht mit dem übereinstimmen muss, was da draußen tatsächlich passiert.

Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Die Leipzigerin Ine Dippmann arbeitet für den MDR und ist langjährige Vorsitzende des DJV Sachsen.

www.djv-sachsen.de

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