- Kunst
Eine Seite Vernunft

Vernunft und Kunstwerk - Geht das überhaupt?
Leipzig hat gerade zwei große, wirklich große internationale Musikfestivals hinter sich gebracht, das Mahler-Festival und das Bachfest. Beide Festivals widmen sich Komponisten, die zu den Giganten der Musikgeschichte gehören. Der Jüngere komponierte vor 100 Jahren als Dirigent Sinfonien ungeahnten Ausmaßes, der Ältere schuf vor 300 Jahren, zumindest hier in seiner Leipziger Zeit, Passionen ebenfalls ungekannten Ausdrucks, weitere 200 Kantaten kann man getrost auf mehrere Jahre sonntäglich verteilen.
Beide Komponisten schufen außerordentliche Kunstwerke, die allein mit Fleiß – und fleißig waren sie – und Handwerk – das verstanden sie – allein nicht zu erklären sind.
Gustav Mahler verehrte Johann Sebastian Bach. Sie beide besaßen die Fähigkeit, mit ihren Gaben Musik zu erschaffen, die den Blick in eine andere Welt eröffnet, wenn man sich nur darauf einlässt. Mit einzigartigen, ihnen zur Verfügung stehenden kompositorischen (man könnte auch sagen: vernünftigen) Mitteln vermögen diese Werke bis heute mit ihrer Musik Menschen zu berühren, zu ihnen zu sprechen. Manchen zeigt es den Weg in eine bessere Welt, hilft auf der Suche nach Erlösung vom (Erden-)Schmerz, tröstet.
Das ist alles rational schwer nachzuvollziehen, und doch bewegt es uns. Schnell stoßen wir dabei an das Ende unseres eigenen Begreifens, unserer Vernunft. Diese Musik vermag eine Ahnung davon zu geben, wie es sein könnte: friedlich, schon auf dieser Welt! Hoffnungsvoll, trotz unsagbarer Zerstörung. Geborgen, trotz Einsamkeit.
Ist es vernünftig, angesichts dramatischer Versäumnisse in unserer Umwelt, trotz furchtbaren Mordens auf (fast) allen Kontinenten, trotz existenzieller Not unzähliger Menschen Kultur zu fördern? Das (viele) Geld könnte doch so gut auf dieser Welt verwendet werden! Ja, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ohne diese Imagination, die uns Kunstwerke – und nicht nur die beider genannten Komponisten – ermöglichen, würde uns ein wesentlicher Baustein fehlen, die Welt zu verbessern, die Menschen zu verstehen.
Kunst berührt uns – und zwar unabhängig davon, ob wir das kunstvoll Gemachte mit Vernunft begreifen.
Der 1954 in Schwerin geborene Pianist Hanns-Martin Schreiber ist emeritierter Professor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Freunde des Bach-Archivs Leipzig sowie der Gesellschaft der Freunde des Gewandhauses zu Leipzig.