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  • Stadtleben
Kolumne

Eine Seite Vernunft

Der Historiker und Musikwissenschaftler Anselm Hartinger ist Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums. In seinem Beitrag spricht er über Meinungsstreit im Museum und Potenziale jenseits der bloßen Vernunft.

Stadtgeschichtliches Museum Direktor Dr. Anselm Hartinger
Dr. Anselm Hartinger ist seit 2019 Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums. Er leitet acht Ausstellungshäuser und Geschichtsstätten in Leipzig. © Mahmoud Dabdoub

Warum braucht es heute noch Museen?

Im täglichen Terminstress und den eingeschliffenen Bedeutungsroutinen gerät zuweilen aus dem Blick, warum es uns Museumsleute und solche nichtkom­merziellen Begegnungsorte überhaupt braucht. Die durch die Pandemie erzwungenen Schließungen sowie die vor uns stehenden gesellschaftlichen Umbrüche und bereits spürbaren seelischen Verwerfungen haben das nun mit erwünschter Deutlichkeit klargestellt.

Menschen sind keine Distanzwesen; nahbare Kommunika­tion, faire Zusammenarbeit und das Aufeinanderbezogen­-Sein der Generationen und Geschlechter sind die Essenz unseres Gemeinwesens und die Wurzel aller kulturellen und demokratischen Errungenschaften.

Museen sind unterhaltsame Versachlicher von Diskussionen. Wie die Kontroversen um Corona­ Beschränkungen, Straßennamen, Zoogründer oder auch das DDR­-Erbe zeigen, werden die Frontlinien in der Ge­sellschaft und Erinnerungskultur auch bei uns schroffer, weicht das Gespräch kontrastierender Interessengruppen verbittertem Schweigen oder ausgerechnet in der Stadt der Friedlichen Revolution der mindestens verbalen Gewalt. Im Museum jedoch erlebt man jenseits der eigenen Echo­kammern augenfällig, dass nicht alle Dinge sind, was sie scheinen, und es sogar Spaß machen kann, Verschiedenheit auszuhalten und kultivierten Meinungsstreit als Bereiche­rung zu sehen.

Museen sind Laboratorien des Zusammenhalts einer Stadtgesellschaft. Wenn wir ab Mai 2021 unser Projekt „Kennzeichen L“ zeigen, dann erkunden wir, wo unsere Identifikationsklammern und Bruchlinien liegen und wie es in und nach der Krise mit unserem Zu­sammenleben, mit unserer Mobilität und Natur und nicht zuletzt unseren gefährdeten Innenstädten weitergehen soll.

Museen sind außerschulische Lernorte, die Schulen und Kindergärten entlasten können und mit kre­ativen Vermittlungsformaten spielerisch Zugänge auch zu scheinbar abstrakten Themen finden.

Schließlich sind Museen (T)Raumschiffe der Inspiration, die eine Welt jenseits von Ratio, Anstands­regeln und Zahlenkurven eröffnen. Wenn es in meiner barocken Lieblingskantate heißt „Vernunft, was willst du dazu sagen?“ – dann sehe ich das als Anstiftung, gegen alle Resignation neu anzufangen und von einer lebenswerten Stadt der Zukunft zu träumen. Lassen wir uns im Angesicht der Schöpfungen und Irrwege früherer Generationen von den eigenen offenen Möglichkeiten verzaubern – wir im Museum stehen jeden Morgen dafür auf!

 

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