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    Zweiter Roman von Dmitrij Kapitelman

    Heimatlos in Kiew und Leipzig

    Zweiter Roman von Dmitrij Kapitelman "Eine Formalie in Kiew". © Christian Werner

    Wie wird man eigentlich Deutscher? In seinem zweiten Roman „Eine Formalie in Kiew“ schildert der in Kiew geborene Autor Dmitrij Kapitelman die Schwierigkeiten, mit denen sein Protagonist Dmitrij zu kämpfen hat, als er die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen will. Es ist ein berührend-schmerzhafter Roman über eine Familie, die von Kiew nach Leipzig geflohen ist, die nirgendwo zuhause ist und die an ihrer Sprachlosigkeit fast zerbricht. Es ist aber auch eine hinreißende Liebeserklärung an die Eltern – in einem ganz eigenen Sound mit vielen russischen Einsprengseln und übermütigen neuen Wortschöpfungen.

    In der Ukrainische Sozialistischen Sowjetrepublik durfte Leonid nicht als Diplom-Mathematiker arbeiten, weil er Jude war. Stattdessen wurde er zum umtriebigen Kleinunternehmer, der in China nutzlose Dinge einkaufte, die er zuhause verhökerte. Leonid und seine aus Moldawien stammende Frau Vera waren ein verliebtes, lustiges Paar mit vielen Freunden. Ihren Sohn Dima schicken sie jedoch nicht in den Kindergarten, um ihn vor antisemitischen Übergriffen zu schützen. 1994 emigriert die Familie als „Kontingentflüchtlinge“ nach Leipzig. Dort geht Dima zur Schule. Leonid führt ein Lädchen für russische Spezialitäten, kümmert sich aber nur um Kalkulation und Sortiment. Den Papierkram überlässt er Vera, die daran auch kein Interesse hat. So kommt es regelmäßig zu Katastrophen und Veras Lebensmotto „Hoffe auf das Beste und bereite dich auf das Schlimmste vor“ bewahrheitet sich immer wieder.

    Die Eltern werden in Leipzig nicht heimisch, sie lernen nicht deutsch, finden keine Freunde und um die deutsche Staatsbürgerschaft bemühen sie sich nicht – angeblich aus „emotionalen und jüdischen Gründen“, vermutlich aber liegen Couch und Fernbedienung oft näher als die Ausländerbehörde mit den vielen Formalitäten. Vera hat sich mit dreizehn Katzen in einem russischen „Katzastan“ eingerichtet. Dort chattet sie mit ihren sibirischen Stubentigern, gibt Unsummen für sie aus, während Leonid allmählich zur rechtlosen Randfigur wird und die „seelische Grenzmauer“ in der Familie zusehends wächst.

    Früher hatte Dima geprahlt, sein Gesicht werde niemals unter einem Bundesadler stehen - wegen der Shoa, wegen der Neonazis und der deutschen Polizisten, die dagegen nichts unternehmen. Doch mit den Jahren wird dem „Dummdödel von damals“ klar, wie krass ein deutscher Ausweis das Leben erleichtert. Außerdem muss er sich endlich von seiner Mutter emanzipieren. Die behautet, als Deutscher könne ihr Sohn seine Eltern nicht verstehen. Jetzt will Dima deutscher Staatsbürger werden. Aber das ist schwieriger als gedacht. Zwar ist die „Loyalitätserklärung zum Grundgesetz“ in Ausländerbehörde schnell unterschrieben. Doch dann erklärt ihm die Sachbearbeiterin Frau Kunze: „Mir brauch’n jetzt nür nöch eine arneuerde Gebürdsurgünde un eine Abösdille von Ihn’n. Doas ist die behördliche Beschdädiung einör behördlichen Beschdädigung von dar nächsthöheren’n Behörde.“ Die erneuerte Geburts-urkunde und die „Apostille“ (eine im internationalen Urkundenverkehr übliche Beglaubigung eines Dokuments) bekommt er nur in Kiew.

    Ein Punkt, an dem wir uns endlich wirklich begegnen, umarmen und verzeihen können.

    Als Dima in seine Geburtsstadt, in die heimische Fremde, fliegt, hat er im Kopf, was seine Eltern ihm „eingevorurteilt“ haben. Doch Kiew ist moderner geworden, Erinnerungen erweisen sich als trügerisch. Wider Erwarten ist die „Formalie in Kiew“ mithilfe einer jungen, attraktiven Sachbearbeiterin schnell erledigt. Dima ist fast schon auf dem Rückflug, als ihn sein Vater anruft. Der erklärt etwas wirr, er reise auch nach Kiew, weil er sein Gebiss und seine Krankenkasse verloren habe, der Kiewer Zahnarzt sei viel billiger. Allerdings er nicht sagen, wann er ankommt, so dass Dima rätselt, warum Leonid plötzlich so hochgradig „zahlenverloren“ geworden ist. Ist der Vater an Alzheimer erkrankt? Will Vera die Verant-wortung für ihren Mann loswerden? Dima ahnt: Wenn Vaters „Lustiglämpchen“ erlischt, bricht der Zusammenhalt der Familie endgültig zusammen. Während die Beschaffung der Urkunden ein Spaziergang war, schlägt der bürokratische Sozialismus jetzt, wo es um Leben oder Tod geht, hart zu. Leonid muss warten, Formulare ausfüllen, betteln und immer wieder Ärzte und Pflegepersonal „entdanken“, also bestechen. Dann endlich die Diagnose: Leonid hat einen stummen Schlaganfall erlitten, der mit Infusionen und viel Ruhe behandelt wird. Als die aufgeschreckte Vera nach Kiew fliegt, spürt Dima eine „gigantische Wutwelle“ in sich. Doch als seine alte Mutter neben ihm mehr wankt als läuft, weiß er, dass er diese ängstliche Frau und damit seine Familie vor dem Zerfall bewahren muss. Das Wiedersehen am Flughafen markiert den Wendepunkt: endlich können die drei sich wirklich begegnen, umarmen und verzeihen. Getrennt gelitten haben sie lange genug.

    Bevor sie nach Leipzig zurückfliegen, gehen die drei über den Bessarabka-Basar, wo Vera und Leonid nach vierunddreißig Jahren gemeinsam Salo, Würzspeck, aussuchen und Dima sagt: „Gerührt stehe ich zwischen Schlachtinnereien und blutigen Kacheln. So fremd, wie ein Mensch hier nur sein kann, so verwurzelt, wie ein Mensch hier nur sein kann. So traurig und so beseelt, wie ein Sohn mit zwei Staatsfamilienleben nur sein kann. Ich liebe diese verlorenste unserer Vergangenheiten, ich liebe Kiew. Wie schön es jetzt wäre, kaum groß genug zu sein, um auf die Fleischauslage sehen zu können. Klein und mit unendlichem Vertrauen zu warten, bis Papa und Mama Salo gekauft haben und mit mir weitergehen. Nur für eine Minute.“

    Damit ist dem Autor ein spannender und rührender Roman voller liebenswert-schrulliger Figuren gelungen. Wenn die Geschichte nicht so traurig wäre, wäre sie ein unbändiges Lesevergnügen.

    Dmitrij Kapitelman, Eine Formalie in Kiew, Hanser Berlin
    2021 | ISBN 978-3-446-26937-8 | Fester Einband | 176 Seiten | 20 EUR

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