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    Wir benötigen immer helfende Hände

    Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden des Tafel Leipzig e.V. Dr. Wehmer

    Dr. Wehmer, Vorstandsvorsitzender des Tafel Leipzig e.V. © Tafel Leipzig e.V.

    Nicht erst das neuzeitlichen Krisenstakkato drängt Menschen in unserer Stadt an den Rand der Armut, nein, dies hat sich schon länger abgezeichnet. Die neuen Verwerfungen des Systems verschnellern nur das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Wichtig deshalb, gerade nicht die Scheinwerfer der Medienwelt andauernd auf die in der Sonne zu lenken, sondern all den Helfenden, Emphatischen und Händereichenden positive Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

    Weil wir als Gesellschaft es diesen Menschen schuldig sind!

    Ahoi-Redakteur Volly Tanner sprach mit dem Vorstandsvorsitzenden des Tafel Leipzig e. V. Dr. Wehmer über Armut, Lösungsmöglichkeiten und freiwillige Hilfe:

     

    Ahoi: Guten Tag, Herr Dr. Wehmer. Sie sind der Vorstandsvorsitzende des Tafel Leipzig e. V. und unterstützen mit Ihrem Team mittlerweile 18.500 Kundinnen und Kunden mit Lebensmitteln. Das ist eine erschütternd hohe Zahl, wobei der Bedarf ja noch höher ist. Armut als gesellschaftspolitisches Thema scheint mir jedoch nicht wirklich lösungsorientiert diskutiert zu werden. Oder sehe ich das falsch? Gibt es Lösungen? Wenigstens Ansätze?

    Dr. Wehmer: Die monatlich erhobene Zahl ist erschütternd. Jedoch kommen nicht alle Berechtigten der Stadt zu uns, was unsererseits auch nicht zu bewältigen wäre.
    Gemäß Einkommen dürften jede Woche 53.000 Personen kommen und unser Angebot in Anspruch nehmen. Wenn Bedürftige zum Sozialamt der Stadt gehen werden sie an die Tafel verwiesen, wenn die Tafel Hilfe von der Stadt anfragt – sind wir eine Privatinitiative. Eine sehr fragliche Sicht auf die Tatsachen.
    Armut wird in dieser Gesellschaft auf Erwerbsmöglichkeit von Lebensmittel, Miete und teilweise Fortbewegung reduziert!!! Unter Mensch Sein verstehen wir etwas Anderes.
    Es gibt keine Lösungsansätze, solange der Stadtsprecher des OBM, Herr Hasberg, gegenüber Medien ungestraft formulieren darf, dass der Hartz 4 Satz ausgewogen berechnet zum Leben reicht.

     

    Ahoi: Diese 18.500 Menschen stehen jedoch nicht alle in der Jordanstraße an. Wo sind denn weitere Ausgabestellen?

    Dr. Wehmer: Die Zentrale ist in 04177 Leipzig, in der Jordanstraße 5a. Weitere Ausgabestellen haben wir in 04315 Leipzig, in der Bennigsenstraße 14; in 04416 Markkleeberg, in der Hauptstraße 85 und in 04420 Markranstädt, in der Schulstraße 7. Und dann sind wir auch noch in 04552 Borna, in der Angerstraße 20 und in 04229 Leipzig-Paunsdorf, Südblick 5a vertreten.

     

    Ahoi: Helfende Hände – so erfuhr ich von der 9. Klasse der Goerdeler-Oberschule, die in ihren Osterferien bei Ihnen geholfen hat – gibt es immer viel zu Wenige. Wer hilft denn? Wie viele Menschen helfen? Wer kann mithelfen? Und wie ist das Procedere, um helfen zu können?

    Dr. Wehmer: Ja, wir benötigen immer helfende Hände, insbesondere Fahrer. Bei den momentan zirka 105 Mitarbeitenden sind 75 Ehrenamtliche eingeschlossen. Wir können auch für den Bundesfreiwilligendienst Personen beschäftigen, oder mit Antrag eine Förderung durch das Jobcenter ermöglichen.

     

    Ahoi: Die Preissteigerungen bringen, so denke ich, auch ein vermindertes Spendenaufkommen. An Geld, an Lebensmitteln, an Hilfen. Und die Leipziger Tafel sollte ja nicht die Lückenbüßerin einer völlig verfehlten Sozialpolitik sein. Wo sind die derzeitigen Herausforderungen in Ihrem Verein zu sehen?

    Dr. Wehmer: Wir haben im Moment einen Aufnahmestopp, da mit den erhöhten Preisen weniger Lebensmittel gekauft und somit weniger durch die Supermärkte bestellt werden.
    Schlussfolgerung: wir erhalten auch weniger Lebensmittel.

    Unsere Kosten für Lohn (Mindestlohn für 11 Festangestellte), Kraftstoffe, Energie, Reparaturen etc. steigen. Daraus folgen verstärkte Anstrengungen, Spenden zu erhalten.

     

    Ahoi: Neben der reinen Lebensmittelweitergabe organisieren Sie jedoch auch andere Hilfen. Ich hörte von den Tafelengeln, den Wunschzettelpaten, den Tafel-Gärten etc. Wie ist denn hier der Stand der Dinge?

    Dr. Wehmer: Es gibt eine große Bereitschaft von Personen, die zu bestimmten Anlässen wie Weihnachten helfen wollen und dies auch in überwältigender Weise tun.
    Die Tafelgärten sind in Kooperation mit dem Verein Wabe e.V. vor 25 Jahren entstanden, diese Lebensmittel sind von ausgewiesener Qualität, da BIO, morgens geerntet und mittags in der Ausgabe!

     

    Ahoi: Und was hat es mit den Klickkomplizen und dem SELGROS-Team in Kochschürzen auf sich?

    Dr. Wehmer: Möglichst jeden Donnerstag werden durch SELGROS Partner aus Gastronomie und andere Köchinnen und Köche nominiert, um für die Bedürftigen zu kochen. Das funktioniert wirklich gut.

    Da möchte ich gleich einen Aufruf starten: WIR brauchen dringend einen Koch und/oder eine Köchin, um unsere Profiküche ständig für die Bedürftigen öffnen zu können!

     

    Ahoi: Ich erfuhr auch von der Möglichkeit, Kindergeburtstag zu feiern, von einem Kindererlebnis-Restaurant im Portfolio der Tafel Leipzig. Wer organisiert das denn?

    Dr. Wehmer: Der Verein Leipziger Kinder- und Familienförderung e.V. wurde von uns 2007 gegründet und kooperiert eng mit dem Tafel Leipzig e.V., ich selbst bin als Stellvertreter im Vorstand mit aktiv. Über diesen Verein agieren wir in den unterschiedlichsten Initiativen: Kinderferienlager, gesunde Ernährung und Kooperation mit der Ralf Rangnick Stiftung (Konsum und AOK).

     

    Ahoi: Leipzig schreibt sich ja auf die Fahnen, ein soziales, solidarisches und nachhaltiges Vorzeigeprojekt zu sein. Konferenzen und Meetings dazu gibt es noch und nöcher. Wie sehen Sie als Vorstandsvorsitzender des Tafel Leipzig e.V. das? Was kann und muss die Stadt dringend tun? Wer kann das ganz konkret tun? Wo hapert es?

    Dr. Wehmer: Die Stadt muss sich mit uns zusammensetzen. Dann können wir Klartext reden und unsere Frage stellen und vielleicht sogar wirkliche Lösungen erarbeiten. Dafür braucht es jedoch Kommunikation auf Augenhöhe.

     

    Ahoi: Danke, Herr Dr. Wehmer, für Ihre Zeit, Ihre Antworten und Ihr Engagement.

    Tafel Leipzig e. V. im Netz:

    www.tafel-leipzig.de

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