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Sophie Jones

Eine Seite Vernunft

Sophie Jones hat in ihrem Leben schon so einiges erlebt. Mit 18 Jahren fand sie die Kraft, bei den Zeugen Jehovas auszusteigen. Längst hat die Leipzigerin ihren eigenen Lebensweg gefunden.

Sophie Jones
Sophie Jones © Stephan Glathe

Die beste Version meiner Selbst

Wer bin ich und wenn ja, wo finde ich mich?

Mein wahres Ich liegt gern faul auf der Couch und knuspert fröhlich Transfettsäuren in Form von Backcamembert zu ein paar Folgen „Suits“.

In letzter Zeit fühle ich mich zunehmend von Selbstoptimierungsinhalten belästigt. Egal, ob im Fernsehen, in Büchern oder auf Social Media: Jeder sucht sein wahres Ich und ist auf der Jagd nach der besten Version seiner selbst.

Es sprießen Lifestyle-Coaches, Mental-Health-Berater und Manifestations-Experten wie Unkraut aus dem Boden, sodass ich mich frage: Stimmt etwas mit mir nicht, weil ich nicht nach meinem besten Selbst oder dem wahren Ich suche? Vielleicht kann ich mein wahres Ich gar nicht finden, weil es irgendwo in der Karibik faul am Strand liegt, einen Mojito schlürft und versucht, sich möglichst wenig zu bewegen.

Ich bewundere Menschen, die morgens aufstehen und als Erstes kilometerweit joggen gehen, eisbaden und meditieren. Ja, ich bin sogar regelrecht fasziniert von ihnen, als würden wir nicht derselben Spezies angehören, denn ich bin schon erleichtert, wenn ich es rechtzeitig aus dem Bett schaffe und eine passende Hose finde.

Natürlich könnte ich mich darüber ärgern und mir einreden, dass ich mit ein wenig Disziplin und Motivation mein Leben viel besser im Griff hätte und all die Hürden des Alltags mit ein bisschen Routine leichter zu meistern sind. Was ohne Frage korrekt ist. Aber ich könnte es auch einfach lassen und aufhören, mich selbst zu kasteien.

Indem ich mir einreden lasse, mein Wert wäre daran zu bemessen, wie produktiv und energiegeladen ich in den Morgen starte und wie gut gelaunt und erfüllt ich abends ins Bett hüpfe. Neben dem Vollzeitjob noch ein Studium absolvieren, währenddessen eine Fremdsprache lernen, im Kirchenchor singen, täglich das Fitnessstudio aufsuchen, mit Daytrading beginnen, ehrenamtlich Waisenkindern Märchen vorlesen und nebenbei noch eine eigene Firma gründen.

Klingt zwar sehr ambitioniert, aber ist, wie ich auf TikTok gelernt habe, absolut nicht unmöglich, wenn man das richtige Mindset hat. Ein Glück, dass ich das nicht habe. Es wäre mir auch viel zu anstrengend. Und etwas Schlaf schadet auch nicht.

Ich habe aufgehört, mich von dem schönen Schein der sozialen Medien, ihren Selbstfindungsgurus, It-Girls und Erfolgstrainern beeindrucken zu lassen, die mit der Unzufriedenheit anderer Leute Geld verdienen, unter dem Vorwand, Menschen zu helfen.

Was ist, wenn mein wahres Ich gar nicht verbessert und optimiert werden muss und ich okay bin, wie ich bin? Und was, wenn du das auch bist?

Sophie Jones ist Autorin und Stand-up-Comedienne. Über ihre Vergangenheit bei den Zeugen Jehovas hat sie eine Autobiografie mit dem Titel „Erlöse mich von dem Bösen“ geschrieben, die in vier Sprachen übersetzt wurde. Als Aktivistin ist sie regelmäßig in verschiedenen Medienformaten zu Gast und leistet Aufklärungsarbeit. Zum Ausgleich schreibt sie lustige Kurzgeschichten und steht auf Comedybühnen.

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