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Stefan Schliewe

Eine Seite der Vernunft

Nach der Raserei und dem Corona-bedingten Zwischenstopp rast unsere Erdbevölkerung wieder auf der Einbahnstraße gegen besseres Wissen. Stefan Schliewe, pädagogischer Leiter der gemeinnützigen GmbH Generationenhof, möchte in seinen Gedanken denen Aufmerksamkeit widmen, die immer da sind und nicht nur dann, wenn mal wieder eine Kuh durchs Dorf gejagt wird. So effizient diese Kuh vielleicht auch ist.

Stefan Schliewe, pädagogischer Leiter der Generationenhof gGmbH © Voll Tanner

Die Unbesungenen

Seit März hat das neuartige Coronavirus uns und unsere Wahrnehmung im Griff. Wir vermissen geliebte Gewohnheiten, geliebte Menschen und sogar die von Zeit zu Zeit ungeliebten Dinge wie Straßenverkehr, Arbeit und Gedrängel in der Innenstadt. Unsere Wahrnehmung hat sich verändert. Sie wurde geschärft für Dinge, die uns besonders wichtig sind, die uns fehlen und deren Bedeutsamkeit wir eventuell neu zu schätzen lern(t)en. In meiner Wahrnehmung haben sich in den vergangenen Wochen drei Ebenen der Systemrelevanz herauskristallisiert. Da sind die Alltagshelden, die uns erst auffallen, wenn sie weg sind. Die, die irgendwie immer selbstverständlich da sind. Und dann gibt es noch die unsichtbaren Berufsgruppen.

Friseur*innen, Kita-Erzieher*innen, Lehrer*innen, Physiotherapeut*innen, Reinigungskräfte, Verkäufer*innen, Hausmeister*innen, Kulturschaffende und viele andere – all diese Menschen fehl(t)en uns schmerzlich. Wir hoffen, dass sie diese schwere Zeit, in der sie ihre Beschäftigung nicht ausüben konnten, gut überstanden haben, sodass wir wieder auf sie zählen können. Wir werden sie zukünftig mit anderen Augen sehen.

Demgegenüber stehen Berufsgruppen, welche uns in den vergangenen Monaten besonders auffielen, weil sie trotz der Gefahr für sich und ihre Familien ihre Berufe für unser aller Wohl und für alle sichtbar weiter ausübten. Häufig und zu Recht benannt werden Ärzt*innen und Pflegekräfte, Polizei und Feuerwehr, aber auch die weniger Beachteten, häufig Selbstverständlichen, sollte unser Dank erreichen. Hand aufs Herz, bedanken wir uns oft genug bei Busfahrer*innen, bei Paket*- oder Pizzabot*innen? Die Liste ließe sich endlos erweitern, aber es wird sicher deutlich, dass es Berufsgruppen gibt, die häufig als selbstverständlich betrachtet werden, deren Abwesenheit sich aber stark auf unsere Lebensqualität auswirkt.

Aber wer waren eigentlich all die anderen Menschen, welche in aller Frühe oder spätabends zunehmend ausgelaugter durch die menschenleeren Straßen streiften? Das waren unter anderem meine Kolleg*innen im Generationenhof. Nicht erst seit März betreuen, begleiten, erziehen und beraten sie kleine und große Menschen 24 Stunden täglich, 365 Tage im Jahr in Wohngruppen und -gemeinschaften in und um Leipzig. Seit März beschulen sie, je nach Gruppengröße, 6 bis 15 Kinder und Jugendliche. Seit März werden Notfallpläne vorgehalten, welche Kolleg*innen sich im Quarantänefall zwei Wochen lang mit ihren Schützlingen einschließen lassen. Seitdem erklären Pädagog*in- nen Kindern und Jugendlichen, warum sie ihre Eltern nicht sehen dürfen. Seitdem erklären sie daheim ihren eigenen Kindern, warum sie gerade so viel arbeiten und ihren Partnern*innen, dass sie leider nicht absehen können, wann diese Phase endet oder ob sie bezahlt werden kann.

Fraglos, Corona trifft alle Menschen hart. Diese Zeilen möchte ich aber nutzen, um allen Kolleg*innen innerhalb der Sozialen Arbeit zu danken und festzuhalten, dass auch die unbesungenen Helden systemrelevant sind.

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