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Sport und Integration

Das große Herz des Leipziger Sports

Die Leipziger Sportvereine zeigen im Ukraine-Krieg ihr großes Herz. Unzählige Geflüchtete treiben heute völlig selbstverständlich in der Messestadt Sport. Auf Breitenwie auf Spitzensport-Niveau.

Timur Dhamalov
Der ukrainische Ringer Timur Dhamalov beim Training in der Sporthalle Leplaystraße © Sylvio Hoffmann

Timur Dzhamalov zwingt seinen Trainingspartner beim Auskämpfen der Position wieder und wieder zu Boden. Der 16-Jährige, kräftige Schultern, breites Kreuz, ringt, seit er sieben Jahre alt ist. Er ist ukrainischer Vizemeister in der Gewichtsklasse bis 80 Kilogramm, griechisch-römischer Stil.

Seit zwei Monaten lebt er in Leipzig, wo er wie vier andere Ukrainer in der Kadetten-Trainingsgruppe des Ringer-Verbandes Sachsen für das Sportgymnasium und die Sportoberschule trainiert. Ringen, Wasserspringen, Kanurennsport, Handball, Rhythmische Sportgymnastik, Fußball: Dzhamalov ist einer von etwa 100 ambitionierten Athletinnen und Athleten, die in der Messestadt untergekommen sind. Exakte Zahlen liegen nicht vor.

Das Sportgymnasium hat eine Auffangklasse mit derzeit knapp 20 Plätzen geschaffen und einige Internatsplätze bereitgestellt, auch auf der Sportoberschule und einigen Grundschulen sind Geflüchtete gemeldet. „Aus Timur kann was werden“, sagt Pavel Flink, einst Spitzen-Ringer in der Sowjetunion, heute Honorartrainer beim Sächsischen Verband. „Alle ukrainischen Jungs haben was drauf.“

Der Jugendliche flüchtete mit der Familie eines guten Freundes, bei der er jetzt in Leipzig lebt. Seine Eltern und fünf Geschwister leben weiter in der Millionenstadt Dnipro. „Ich vermisse sie und ich will irgendwann zurück. Aber jetzt ist es noch zu gefährlich.“ Sein älterer Bruder kämpft an der Front. Der Sport hilft Dzhamalov, nicht auf dumme Gedanken zu kommen, denn zur Schule geht er in Deutschland noch nicht. Dreimal in der Woche trainiert er an der Leplaystraße Ringen, zweimal schwitzt er im Kraftraum.

Für den KFC Leipzig hat er Ende Juli am Internationalen Römercup in Ladenburg teilgenommen und einen starken dritten Platz geholt. Dzhamalov mangelt es nicht an Selbstbewusstsein: „Ich will zuerst Europameister werden“, beschreibt er seine Träume, „und später Weltmeister.“

Für Jugend-EM qualifiziert

Diana Karnafel steht in der Schwimmhalle des SC DHfK an der Mainzer Straße auf dem 1-Meter-Brett und bringt Sprung für Sprung ins Wasser. „Sie hat eine sehr saubere Technik, sehr elegant“, sagt DHfK-Abteilungsleiter und Bundesstützpunktleiter Manfred Große. Die 15-Jährige Wasserspringerin ist amtierende ukrainische Jugendmeisterin vom 3-Meter-Brett und hat die Norm für die diesjährige Junioren-Europameisterschaft erfüllt.

Mit Mutter Olga und Bruder Jan kam sie im Bootshaus des SC DHfK in Leipzig-Burghausen provisorisch unter. Ihr Vater, ein Chirurg, musste in der Heimat bleiben. Eine schwere Situation für die Jugendliche, die die Fluchtumstände dank ihrer fröhlichen Art gut verkraftet hat. Sie gehört zu den 14 Talenten und zwei Trainerinnen aus der Ukraine, die der SC DHfK in die Abteilung Wasserspringen integriert hat.

„Vom Leistungsniveau würde ich sie alle sofort übernehmen“, betont Große. Offizielle Vereinsmitglieder sind sie noch nicht. Karnafel findet es toll, dass sie ihren Sport unter Top-Bedingungen weiter ausüben kann. „Aber das Training in der Ukraine war härter“, sagt sie lachend. Integration ist Dmytro Ostapenko, Leipziger Bundesstützpunkttrainer, immens wichtig. Er stammt selbst aus der Ukraine und hilft beim Dolmetschen. „Ohne ihn hätten wir die ganzen Behördengänge und vieles andere gar nicht managen können“, lobt Große seinen engagierten Kollegen.

Donnerstag angemeldet, Samstag gespielt

Montagnachmittag beim Tennisclub Wacker Gohlis in Leipzig. Alina Dzhamalova kommt mit dem Tennisschläger unterm Arm und der Sporttasche über der Schulter zum Anfängerkurs. Die Ukrainerin mit den langen dunklen Haaren gehört zu den sechs ukrainischen Männern, Frauen und Kindern, die in der Max-Liebermann-Straße eine sportliche Interimsheimat gefunden haben.

Der Verein war einer der ersten, der auf der Website des Stadtsportbundes Leipzig Tennis für ukrainische Geflüchtete angeboten hat. Für alle ist das Training kostenlos. Bei Bedarf stellt der Verein unter anderem die Tennisschläger. Wer Tennis spielen kann, ist zudem berechtigt, am Punktspielbetrieb teilzunehmen. Eine Ausnahmeregelung des Sächsischen Tennisverbandes ermöglicht dies.

Juri und Valentin Dmytriiev nutzen diese Option. Beide spielen bei den Herren 30. „Das war wie ein Wink des Schicksals. Wir brauchten noch Spieler und haben Valentin und Juri Donnerstag angemeldet. Und Samstag haben sie bereits gespielt“, sagt Vize-Präsident Sebastian Luther. Valentin ergänzt: „Wir sind froh und dankbar, als Fremde so schnell Anschluss gefunden zu haben. Wir sind motiviert und haben große Lust.“

„Es ist gut, dass wir helfen können“

Ähnlich unkompliziert ist es beim SV Lindenau 1848 im Leipziger Westen. Auf dem Kunstrasenplatz am Charlottenhof ist Kindertraining. Der Platz ist mit bunten Hütchen in kleine Felder eingeteilt. Zehn ukrainische Kinder spielen in unterschiedlichen Mannschaften.

„Wir haben noch keinen weggeschickt, die dürfen alle kommen“, sagt Harry Schramm, Jugendleiter der Abteilung Fußball. Klar, die Verständigung ist nicht leicht. Kein ukrainisches Kind spricht deutsch. Aber, so Schramm: „Der Ball ist rund, der Trainer macht es vor, die anderen Kinder machen es nach. Und da kommt der Zwerg aus der Ukraine und macht es genauso gut.“

Artjom ist einer der ukrainischen „Zwerge“. Der Achtjährige aus der Nähe von Mariupul kommt inzwischen gern zum Training. „Es ist zwar nicht so wie zu Hause, aber inzwischen freue mich auf das Training und auch auf die anderen Kinder.“ Zu den anderen gehören Max, Anna und Kenia. „Wir freuen uns, Kinder aus einem anderen Land kennenzulernen. Man muss ihnen helfen, denn dort ist Krieg“, sagen sie.

Artjom ging es anfangs nicht gut in Leipzig, er hatte Heimweh. Inzwischen geht er in eine Grundschule und hat vor allem beim SV Lindenau neue Freunde gefunden. Mutter von Artjom

Auch ganz praktisch wird den Ukrainern geholfen. Mit Sportkleidung zum Beispiel. Dazu wurde vereinsintern eine Sammelaktion veranstaltet. Zudem gibt es den „Schuhschrank“. „Zu klein gewordene, gut erhaltene Sport- oder Fußballschuhe können hier abgegeben werden. Hier findet jeder etwas Passendes“, so Schramm.

Wie viele Geflüchtete in den Breitensportvereinen seit Ausbruch des Krieges aufgenommen wurden, kann Christian Lehmann, Koordinator für Integration/Inklusion vom Stadtsportbund Leipzig nicht sagen. „Es ist schwierig, die Familien direkt zu erreichen, um sie über die Angebote der Sportvereine zu informieren. Meist sind sie dezentral, also privat, untergekommen. Sportangebote versuchen wir daher vielfältig zu streuen. Über Telegram oder Initiativen wie ‚Leipzig helps Ukraine‘.“

Kopfschütteln über Bürokratie

Die meisten der rund 400 im Stadtsportbund organisierten Vereine bieten über ihre Websites Möglichkeiten zum Sporttreiben an. Beim Stadtsportbund stehen 25 Sportarten zur Auswahl. Inzwischen melden sich dort vor allem viele ukrainische Mütter, um nach Angeboten zu fragen. Der Wille zur Unterstützung seitens der Vereine sei nach wie vor sehr groß.

„Dies merken wir an den täglichen Anrufen und E-Mails“, so Lehmann. Der Landessportbund Sachsen (LSB) bewertet es positiv, dass Sächsische Sportvereine erneut großes Engagement bei der Integration zeigen – wie schon bei der Flüchtlingsbewegung seit 2015. „Und dass sie viele Maßnahmen selbstständig durchführen“, wie Generalsekretär Christian Dahms lobt.

Der Verband steht den Vereinen unterstützend und beratend zur Seite. Durch das LSB-Programm „Integration durch Sport“, Förderprogramme der Kommunen oder das Soforthilfeprogramm des DOSB können sie finanzielle Unterstützung beantragen, um Mehrkosten abzudecken. Wobei man sich vielerorts wünscht, dass solche Hilfen unbürokratischer verteilt werden.

Die größten Hürden – ob im Spitzenoder Breitensport – sind für die Neuankömmlinge die Sprachbarriere und die schwierige Wohnsituation. Denn viele Unterkünfte sind nur auf Zeit, in den eigenen vier Wänden lebt kaum eine Familie. Und: Im Leistungssport mangelt es teilweise an ausreichend Sportstätten und Trainern, um den gestiegenen Bedarf an Trainingseinheiten abzudecken.

Und dann ist da noch die Bürokratie in den deutschen Amtsstuben, wie Wasserspringer-Funktionär Große weiß. Was er beim Umgang der Behörden mit einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling oder bei einem Umzug über Kreisgrenzen hinaus an umständlichen Vorschriften und Klein-Klein erlebt hat, wäre einen eigenen Artikel wert. Aus ihrer Sicht hat aber die Integration gut funktioniert, finden Ringer Timur Dhamalov und Wasserspringerin Diana Karnafel.

Es ist schön zu erleben, dass die meisten Vereine ganz individuell ihre Hilfe für ukrainische Geflüchtete anbieten. Die machen einfach und stellen die Angebote auf ihre Websites. Christian Lehmann, Koordinator Integration und Ehrenamt beim Stadtsportbund

Sport hilft, den Krieg zu vergessen

Die große Frage: Wie viele der Sportlerinnen und Sportler werden in zwei, drei Jahren noch in Leipzig sein? Wie viele werden sich dauerhaft integrieren? „Das weiß keiner. Vielleicht ein Drittel“, schätzt Manfred Große vom SC DHfK. Ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder doppelte Staatsbürgerschaft können die Spitzenathleten nicht in Landes- oder Bundeskader berufen werden und nicht an internationalen Wettkämpfen für Deutschland starten.

Diana Karnafel ist schon Anfang Juli mit ihrer Familie nach Kiew zurückgekehrt – als erste der ukrainischen DHfK-Wasserspringer. Ihre Mutter wollte ihr Baby in der Heimat zur Welt bringen. Für die meisten kommt dieser Schritt noch zu früh. Beim SV Lindenau 1848 hat der achtjährige Artjom mit seiner Gruppe soeben einen Staffellauf gewonnen. Er klatscht fröhlich mit den anderen Kindern ab.

Und auf dem Tennisplatz beim TC Wacker Gohlis ist Alina zufrieden, dass sie sich als Anfängerin bei den Übungen mit dem Tennisball geschickt anstellt. „Tennis und die neuen freundlichen Menschen helfen mir, den Krieg für ein, zwei Stunden zu vergessen. Das ist Zeit für mich und gibt mir Kraft.“ Und wenn sie irgendwann in die Ukraine, in ihr Zuhause in der Nähe von Kiew zurückkehrt, will sie weiter Tennis spielen.

Tipps für Vereine, die helfen wollen

Was, Wie, Wo?

Versicherung: Auch Nichtmitglieder sind automatisch versichert, weil alle Vereine (sofern sie Mitglied im LSB sind) bei der ARAG versichert sind. Voraussetzung bei Nichtmitgliedern: Die Personalien müssen aufgenommen werden. Eventuell als Nachweis bei Sportunfällen.

Spielberechtigung: Dazu gibt es unterschiedliche Regelungen. Auskünfte dazu gibt es über die Fachverbände oder den Stadtsportbund.

Mehrausgaben: Fallen in den Vereinen mehr Kosten für zusätzliche Übungsleiter, für Fahrtkosten, Sportgeräte oder für Dolmetscher an, hilft der Landessportbund. Dort ist ein extra Fördermittelprogramm aufgelegt worden. Auch über die Beantragung von Aufwandsentschädigungen, mit denen die Stadt Leipzig die Vereine unterstützen will.

Kooperationspartner: Wer Kontakt zu Gemeinschaftsunterkünften oder sonstigen Netzwerken der Ukraine-Hilfe aufnehmen möchte, kann sich ebenfalls an den Stadtsportbund wenden.

Ansprechpartner: STADTSPORTBUND: Christian Lehmann, Tel. 0341-308946-23, E-Mail: c.lehmann@ssb-leipzig.de LANDESSPORTBUND: Marko Arsenijevic, Programmleiter „Integration durch Sport“, Tel. 0341-2163179

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