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  • Interviews
Gespräch mit dem Leipziger Fotografen Marcel Schreiter

Der natürliche Zugang zu den Menschen auf der Straße

So mancher Blick heraus aus der eigenen Filterblase fördert Faszinierendes zu Tage. Der in Leipzig lebende Marcel Schreiter hat, um diesen Blick heraus zu erleben, sein Fotoränzlein geschnürt und Rumänien, genauer Bukarest, besucht und fotografiert. Mit seinen Bilder berührt er zutiefst. Ahoi-Redakteur Volly Tanner hat sich mit ihm getroffen.

Filmemacher und Fotograf Marcel Schreiter © Marcel Schreiter

Ahoi:  Guten Tag, Marcel Schreiter. Auf meinem Tisch liegt gerade – geöffnet – Dein Buch „Bukarest – the city of good life“. Hier sind Fotografien von 2015-2017 gesammelt, die Du gemacht hast. Das impliziert, dass Du öfter in Bukarest warst oder dort sogar gelebt hast. Was ist die Geschichte hinter den Bildern?

Schreiter: Ich kam 2015 mit einem dreimonatigen Stipendium vom Rumänischen Kultur-Institut nach Bukarest. Mit welchem fotografischen Konzept ich mich damals beworben habe, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Durch die direkt nach meiner Ankunft aufkommenden Colectiv-Proteste haben wir unmittelbar begonnen, einen Dokumentarfilm über die junge Bukarester Kulturszene und die neue Protestkultur Rumäniens zu drehen. Da dieses Großprojekt meine zwei Partner und mich sehr eingespannt hat, brauchte ich noch ein kleines eigenes Projekt zur Abwechslung. Mit der Streetphotography, die ja ohnehin auch Spass machen kann, hatte ich bereits während meines Studiums in Prag begonnen. Die Fotografien sind sozusagen auf meinen Spaziergängen durch die Stadt entstanden. Dabei habe ich innerlich von allen Überlegungen bzgl. Technik und Bildgestaltung losgelassen. Es war ein Treibenlassen durch die Stadt, verbunden mit einem schnappschussartigem, intuitiven Fotografieren. Dabei ist ein sehr innerlicher und natürlicher Blickwinkel entstanden, welcher die Bilder so authentisch und ehrlich macht. Dass daraus ein Buch entstehen kann, war mir erst klar, als ich zwei Jahre später die Bilder aufgrund einer Anfrage für ein Theaterprojekt in Bukarest gesichtet habe. Dass die Wirkung der Bilder im Gesamten so intensiv sein wird, hat mich selbst überrascht.

 

Ahoi: Deine fast dokumentarische Sicht, dein genauer Blick für Details, macht die schwarzweißen Fotografien fast schon melancholisch in ihren aufgezeigten Brüchen. Solch eine Art zu fotografieren lernt man nicht in einem kurzen Fotoworkshop, das dauert ja länger. Wie bist Du zu Deinem Stil gekommen? Was war Dein Weg?

Schreiter: Schon im Studium der Kultur- und Medienwissenschaften habe ich mich vorrangig mit sozialen Phänomenen und auch deren medialer Darstellung wie z.B in Film und Fotografie beschäftigt. Dazu kommt meine eigene Arbeit als Filmemacher, denn auch dabei fühle ich mich im Dokumentarfilm am Wohlsten. Also, einen gewissen beobachtenden Blickwinkel hatte ich ohnehin schon verinnerlicht. Ein intuitiver Umgang mit der Technik war mittlerweile auch vorhanden. In der Fotografie selbst versuche ich mich allerdings von formalistischen Gestaltungstechniken mehr und mehr zu lösen und einen persönlichen Stil zu entwickeln, welcher nicht nur die Umstände der Personen auf den Bildern, sondern auch die des Fotografen selbst erzählt. Dabei ist Verständnis, Empathie und vielleicht auch die eigene Historie am Wichtigsten, wenn man soziale Phänomene darstellen möchte. Wenn du „fast dokumentarisch“ sagst, verweist du bereits auf das philosophische Problem, welches in diesem Begriff steckt. Das ist ein bisschen wie die Frage nach der Wahrheit. Und ja, mein Zugang kommt aus der „teilnehmenden Beobachtung“. Ich möchte ja nicht inszenieren, sondern Momente einfangen und dabei deutlich machen, dass die Darstellung von Wirklichkeit immer eine Mischung aus Objektivität und Subjektivität ist und sich vermeintlich objektive Ansichten und Perspektiven natürlich auch aus gewissen Paradigmen entwickelt haben, die es immer wieder erneut gilt, in Frage zu stellen und zu reflektieren. Am Ende geht es mir um Authentizität. Man könnte sagen, dass Fotografie neben meiner wissenschaftlichen und filmischen Beschäftigung das Experimentierfeld der dokumentarischen und künstlerischen Arbeit darstellt, in welchem ich genau diese Frage behandele. Das Wichtigste und Schwierigste zugleich ist allerdings der natürliche Zugang zu den Menschen auf der Straße. Ohne dies wären meine Bilder nicht möglich.

Ahoi: Im Buch gibt es textliche Schnipsel des Schriftstellers Michael Schweßinger, der ja auch öfter in Bukarest weilte. Was hat er dort gemacht und wie habt ihr zusammengefunden? 

Schreiter: Michael hatte bereits mehrere Jahre in Bukarest gelebt und dort als Bäcker gearbeitet. Wir kannten uns ja bereits aus Leipzig und hatten schon ein Filmprojekt über den Lindenauer „Kapitain“ zusammen gemacht. Dass wir uns dort wiedergesehen haben, war sowohl persönlich als auch künstlerisch einfach ein schöner Zufall. Ich war in diesen Jahren selbst für mehrere Monate immer wieder in anderen Städten Europas unterwegs und da ist gerade Bukarest nun nicht der erste Ort, bei dem man vermuten würde, dass man bekannte Gesichter trifft. Ich hab mich ja selbst für Bukarest entschlossen, da zwei sehr gute Freunde von Frankreich dorthin gezogen sind. Wir wollten schon seit Längerem mal am selben Ort wohnen und ein Projekt zusammen machen, das wir dann auch mit dem Dokumentarfilm „Portavoce“ geschafft haben. Mit Michael war es ähnlich, denn auch bei uns kam es dann gleich zu einem Kurzportrait „Vom östlichen Rande“, sozusagen als Anschluss an unseren Lindenauer Film. Michaels und mein Stil und auch unsere Perspektive auf die Stadt flossen so natürlich ineinander über, dass wir bei diesem Buch gar nicht groß überlegen mussten, ob wir es zusammen machen wollen.

Ahoi: Wenn ich richtig informiert bin, hast Du Deinen beruflichen Sitz im Leipziger Westwerk. Heißt, Du machst noch mehr als Bücher. Was machst Du denn noch so und für wen, mit wem und warum?

Schreiter: Im Westwerk arbeite ich nicht. Da irrst Du, Volly. Vorrangig bin ich im Filmbereich tätig und habe während dem ersten Corona-Jahr eine größere Tutorialserie von Jokes ABC-Schule für Deutsch-Lernende erstellt. Kürzlich habe ich die Sendebeiträge des Literatur e.V. für die Thüringer Literaturtage gefilmt, welche Mitte Juli veröffentlicht werden. Auch begleite ich mit kleinen Filmchen gerade mehrere soziokulturelle Projekte, wie den barrierefreien Bildungsgarten Salvia vom „Gemeinsam Grün e.V.“ und auch die internationalen Austauschcamps des soziokulturellen Vereins „Die Villa“. Daneben drehe ich auch Musikvideos und Konzerte. Also alles, was mit Kultur und sozialem Engagement zutun hat, könnte man sagen.

 

Ahoi: Das Buch erschien in der Edition Outbird. Kannst Du uns etwas dazu erzählen, wie es zu der Zusammenarbeit kam?

Schreiter: Da Michael bereits bei Edition Outbird veröffentlicht hat, lag es nahe, dort den ersten Entwurf vorzustellen. Dass Tristan, der Verlagschef, soviel Mut hatte, uns direkt zuzusagen, rechnen wir ihm hoch an. Denn ein derartiger Fotografie-Band ist jetzt nicht gerade ein kleines Projekt, schon allein was die Druckkosten und das Layout angeht - vom Thema ganz zu schweigen. Auch meine Vorstellungen lassen sich ziemlich genau auf bedingungslose künstlerische Freiheit zusammenfassen. Das macht jetzt nicht jeder Verlag einfach so mit. Gerade deshalb war diese Zusammenarbeit unheimlich motivierend. Dass wir alle gleichermaßen zufrieden mit dem Ergebnis sind, zeigt, dass die Zusammenarbeit die richtige Entscheidung war.

 

Ahoi: Bukarest und Rumänien in seiner Gänze hat in der hiesigen Szene nicht unbedingt den besten Geruch, glaube ich. Was möchtest Du mit deinem Buch erzählen? Man spürt ja die liebevolle Sicht auf die dort lebenden Menschen.

Schreiter: Das ist ein wichtiger Punkt, den auch die Rumänen selbst haben nicht unbedingt den besten Ruf und sind etlichen Vorurteilen ausgesetzt. Das Thema der Wanderarbeiter und den Umgang mit diesen Menschen möchte ich jetzt nur kurz andeuten. Aber im Wesentlichen neigen die Menschen hierzulande gern dazu, ihre westlichen Vorstellungen und Erklärungsmuster auf andere Kulturen überzustülpen, ohne eigentlich die Menschen und deren Probleme und Umstände genauer zu verstehen. Und manchmal geht es auch gar nicht um das argumentative Verstehen als Ansatz. Auch dieses scheint mir derzeit ein gefährlicher Weg, da auch der Umgang mit Informationen gelernt sein will. Anstatt Erklärungen zu bieten möchte ich das Leben und dessen Brüche und Widersprüchlichkeiten selbst darstellen. In unserem Buch tritt immer wieder die Bukarester Lebenswelt auf Versprechungen der Werbeindustrie als Thema hervor. Im Gegensatz dazu zeigen sich schöne zwischenmenschliche Momente und Herzlichkeit. Aber generell möchte ich, dass die Bilder selbst ihre kleinen Geschichten erzählen, um so ein Gesamtbild zu entwickeln. Dadurch ist es möglicher, Verständnis und vielleicht auch daraus resultierend Solidarität aufzubauen. Ein Bild erklärt mehr als tausend Worte. So kitschig es auch klingen mag, aber es ist eine Sprache, die von allen Menschen verstanden werden kann, da sie auf der Gefühlsebene funktioniert. Während das Denken Erklärungsmuster schafft, um die Realität zu verstehen, bediene ich mich dem direkten Zugang über die Emotion. In meinem Fall war dies auch ein liebevoller und melancholischer Blick auf die Stadt und deren Bewohner.

 

Ahoi: Und die nächsten Projekte? Was kommt nach der Stadt des guten Lebens?

Schreiter: Bücher habe ich gerade erst neu als Präsentationsform für meine Fotografie entdeckt. Mich mit Buchgestaltung und Produktion zu beschäftigen ist eine schöne Erweiterung meiner technischen Fähigkeiten, welche mich gerade meiner Liebe zum Buch unheimlich näher gebracht hat. Zur Zeit entwickle ich ein kleines Magazin-Format als Experimentierfeld für meine fotografische Arbeit. Auch mit Michael Schweßinger wird es bald wieder ein Projekt geben. Aber dazu möchten wir noch nichts verraten. Und ein größeres Dokumentarfilmprojekt wird hoffentlich auch wieder kommen.

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