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Kurzportrait der Autorin Sophie Calle

Geschichten, die das Leben schreibt

Wer ist Sophie Calle? Eine Antwort verspricht der schmale Band Wahre Geschichten, erschienen 2021 in der Bibliothek Suhrkamp; 65 kurze Erzählungen der französischen Konzeptkünstlerin, denen jeweils ein Foto (der Autorin?) als Beweis ihrer Authentizität (?) beigegeben ist.

Was ist wahr, was Phantasie? Schon das Zitat, das sich auf dem Buchumschlag findet „Als Jugendliche war ich flachbrüstig“ wird durch das gewählte Motiv zumindest mal in Frage gestellt. Beziehungsweise lädt den voyeuristischen Leser ein, der Sache auf den Grund zu gehen.

Und er – bzw sie – wird nicht enttäuscht, erfährt man doch, dass das, was bis zum Alter von 39 Jahren quasi nicht vorhanden war, „Ganz von allein, ohne Eingriff, oder äußere Einflussnahme, auf wundersame Weise“ zu wachsen begann, sich formte, „Ich schwöre es“. Zu danken, schreibt Sophie Calle weiter, sei diese „Leistung“, wie sie es nennt, „zwanzig Jahren Frustration, Begehren, Träumereien und Seufzern“. Womit wir im Kosmos dieser außergewöhnlichen Künstlerin wären, die immer wieder für Überraschungen, Skandale, Irritation und Amüsement gesorgt hat. Und so ist es letztlich irrelevant, was Wirklichkeit ist und was der Phantasie entspringt, was autobiographisches Erleben und was literarische Überhöhung ist. Es sind kurze, oft nur wenige Sätze, die in ihrer Lakonie die Zerrissenheit des Lebens aufscheinen lassen. „Ich war vierzehn Jahre alt, und meine Großeltern wollten ein paar meiner Makel korrigieren (...) Ich zögerte (...) Man vereinbarte einen Termin bei Doktor F., einem berühmten Schönheitschirurgen. Er war es, der meinen Zweifeln ein Ende setze. Zwei Tage vor der Operation brachte er sich um.“

Die Beziehung zu den Großeltern, den Eltern, insbesondere der Mutter, dürften nicht ganz störungsfrei gewesen sein. Der Vater, ein Kunsthändler, war „...ob meiner Untätigkeit“ (Sophie ist 26 Jahre alt) enttäuscht; also beschloss sie, Künstlerin zu werden, indem sie willkürlich Passanten auf der Straße folgte, sie fotografierte und so „deren Weg zu meinem machte“. Sophie Calle, die Stalkerin, die das eigene Leben und das gänzlich Unbekannter dokumentarisch nachzeichnet und die Belege ihres Nachstellens in künstlerische Formen kleidet. Kann sie so die offenbar hohen Erwartungen der Eltern erfüllen? Lesen wir den Kommentar der Mutter, als sie anlässlich einer Vernissage im Museum of Modern Art in New York angesichts Leselisten der Werke ihrer Tochter zwischen denen von Edward Hopper und René Magritte „ohne jeden Anflug von Boshaftigkeit“ ausruft „Die hast du aber ganz schön reingelegt!“ Wünschte man sich da selbst das Leser nicht etwas mehr Empathie?

Mit 26 Jahren arbeitet Sophie gewissermaßen nebenbei als Stripteasetänzerin in einer Bar am Pigalle; für den Fall, das ihre Großeltern, die nahebei wohnten, überraschend hereinschneien, wird mit Fallen der Kleidung eine blonde Perücke aufgesetzt. Das dem Text beigegebene Foto allerdings widerlegt die eingangs geschilderte Episode des Wachstumswunders zu späterer Zeit. Aber egal, wen kümmert‘s; der Eindringlichkeit des Geschehens nehmen derlei Nickeligkeiten weder Kraft noch Wirkung. „Jeden Tag zwischen neun und zwölf trat ich auf. Und jeden Tag saß ein Mann drei Stunden lang links in der ersten Reihe und zeichnete mich. Um Punkt zwölf holte er eine Rasierklinge aus der Tasche und zerschnitt sorgfältig und ohne den Blick von mir zu lösen die Zeichnung. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, und beobachtete ihn nur. Dann ging er und hinterließ diese Fetzen meiner selbst. Die Szene wiederholte sich zwölf Mal. Am dreizehnten Tag erschien ich nicht zur Arbeit“. Neun Zeilen einer Episode, ob wahr, ob erdacht, die dazu einladen, mehr über diese außergewöhnliche Frau zu erfahren, die uns in diesem von Sabine Erbrich aus dem Französischen übersetzten Buch Einblick in ihr Leben gewährt. Eine spannende, bewegende, kurzweilig amüsante Lektüre in 65 Aufzügen, die nicht spurlos an einem vorbeizieht.

Sophie Calle: "Wahre Geschichten" | Suhrkamp Verlag 2021 ISBN 978-3-518-22519-6 | Gebunden | 141 Seiten | 22 €

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